Inhalt:
.Berühmt - Beliebt - Behindert. Eine Sendung über außergewöhnliche Leistungen von Menschen mit Behinderung
Teil 2: Politik beschäftigt Als einziger Präsident der Vereinigten Staaten ist er drei Mal wiedergewählt worden. Bekannt ist er auch als Präsident, der die Vereinigten Staaten durch Wirtschaftskrise und Zweiten Weltkrieg geführt hat. Vor Publikum stand er aufrecht, gestützt von Krücken, Schienen oder den Kollegen neben ihm. In seinen eigenen Vier Wänden saß er im Rollstuhl.
Haben Sie schon erraten, von wem die Rede ist?
Sprecher: Barbara Tschandl und Raphael Sas
Gestaltung und Sendungsverantwortung: Julia Karrer
Transkription: Julia Karrer
Raphael Sas, Sprecher: Als einziger Präsident der Vereinigten Staaten ist er drei Mal wiedergewählt worden. Bekannt ist er auch als Präsident, der die Vereinigten Staaten durch Wirtschaftskrise und Zweiten Weltkrieg geführt hat. Vor Publikum stand er aufrecht, gestützt von Krücken, Schienen oder den Kollegen neben ihm. In seinen eigenen Vier Wänden saß er im Rollstuhl.
Haben Sie schon erraten, von wem die Rede ist?
In der zweiten Folge der Sendereihe "Berühmt - Beliebt - Behindert" erzählt Freak-Radio die außergewöhnliche Geschichte von dem Politiker und Menschenfreund Franklin D. Roosevelt.
Barbara Tschandl, Sprecherin: Seine Antrittsrede zum US Präsidenten am 4. März 1933 beginnt mit den Worten: "The only thing we have to fear is fear itself." - "Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst."
- Ein bedeutungsvoller Satz, der wohl einiges über seinen Sprecher aussagt. Franklin D. Roosevelts Rede ist mit diesen Worten in die Geschichte eingegangen.
Als Nachkomme einer niederländischen Familie wird Franklin D. Roosevelt am 30. Jänner 1882 in Springwood, New York geboren. Er ist der einzige Sohn von James und Serana Roosevelt, einem wohlhabenden Ehepaar, das sich besonders um die liebevolle Erziehung und ausgezeichnete Bildung für ihren Sohn bemüht.
Bis zu seinem 14. Lebensjahr bekommt Franklin Roosevelt Privatunterricht, unter anderem in den Fächern Latein, Französisch und Deutsch. Mit seinen Eltern hat er die Möglichkeit, schon in frühen Jahren Europa zu bereisen und einige Zeit in Deutschland die Schule zu besuchen.
Bis zu seinem 28. Lebensjahr verläuft Franklin Roosevelts Leben relativ ruhig. Nach der Privatschule in Groton, Massachusetts studiert er, auf Wunsch seiner Eltern, in Harvard. Seine Leistungen sind mittelmäßig. Anstatt mit guten Noten oder sportlichen Erfolgen zu brillieren, sticht er als Herausgeber der Studentenzeitung Crimson heraus.
Zur Politik kommt der selbstbewusste, wohlhabende Roosevelt erst im Jahr 1910. Auch die Heirat zu Eleanor, einer entfernten Cousine, erweist sich erst später als politisch relevant. Ihr Onkel war der republikanische Theodor Roosevelt - Franklin steht längere Zeit zwischen dessen Tradition und jener seiner demokratischen Familie.
Die demokratische Partei fordert ihn dann auf, als deren Kandidat für Dutchess County ins Rennen zu gehen. Franklin stimmt zu und gewinnt die Wahl. Schon zu Beginn seiner politischen Karriere besticht er durch seinen unorthodoxen Wahlkampfstil. Mit einem fahnenbestückten Auto fährt er durch die Umgebung und spricht direkt mit den sogenannten "einfachen" Leuten. Besonders am Herzen liegt ihm die Bekämpfung der Korruption in Politik und Verwaltung.
Drei Jahre später ist er als Staatssekretär im Marineministerium tätig und 1920 lässt er sich als Vizepräsidentschaftskandidat aufstellen. Die Wahl endet jedoch in einer Niederlage für die Demokraten.
Seine politischen Aktivitäten muss Franklin D. Roosevelt kurz darauf unterbrechen: Beim Segeln in Campobello Island fällt er in das kalte Wasser. Am nächsten Tag gehen Müdigkeitserscheinungen einher mit einer Lähmung seiner Beine. Die zu späte Diagnose der Ärzte lautet: Polio, Kinderlähmung - ein entscheidender Wendepunkt in seinem Leben, weiß Thomas Fröschl, Professor am Institut für Geschichte in Wien:
Thomas Fröschl, Professor für Geschichte: Diese Krankheit war ein massiver Test. Sie hätte das Ende seiner Karriere bedeuten können, hat es aber nicht. Mit unglaublicher Energie, mit Kraft, mit Hilfe seiner Familie, auch seiner Frau, konnte er diese Krankheit bewältigen. Er wurde nicht gesund, er konnte nicht gehen, am Schluss war er an den Rollstuhl gefesselt. Aber er meisterte diese Krise mit seiner Familie, mit seinem Hintergrund und mit seinem Selbstbewusstsein.
Barbara Tschandl, Sprecherin: Der von Außenstehenden oftmals als arrogant bezeichnete Roosevelt ändert in den Jahren des Schmerzes seine geistige Haltung. Er kann nun die Not der Menschen besser verstehen und zeigt sich als warmherziger, bescheidener Mensch. Er selbst spricht nie verbittert über sein Schicksal. Stattdessen kämpft er aktiv gegen die Lähmung an. Von seinem regelmäßigen Schwimmtrainig, erhofft er sich, die einstige Beweglichkeit zurückzuerlangen: "The water put me where I am, and the water has to bring me back."
Das Thermalwasser in Warm Springs, Georgia, verschafft ihm große Erleichterung. An diesem Ort errichtet er auch später ein Therapiezentrum für Poliokranke und fördert die Wissenschaft, eine Impfung gegen die tückische Krankheit zu entwickeln.
Nach einigen politisch inaktiven Jahren kehrt Roosevelt 1926 als Gouverneur von New York zurück in die Öffentlichkeit. 1932 gewinnt er dann die Präsidentschaftswahl gegen seinen republikanischen Rivalen Herbert C. Hoover. Zu dieser Zeit schreibt man dem amtierenden Präsidenten Hoover die Schuld an der Weltwirtschaftskrise zu. In Roosevelt hingegen projiziert die Bevölkerung Hoffnung. Sie erwartet Reformen, die die Not lindern und die Wirtschaft wieder neu ankurbeln sollten.
Franklin D. Roosevelt führt den „New Deal“ ein - Wirtschaftsreformen, um die Massenarbeitslosigkeit und Armut zu lindern. Er vermittelt trotz schwerer Krankheit Optimismus und Lebensfreude und lässt die Bevölkerung wieder Vertrauen in das System fassen. Dieses Vertrauen, auch zu dem charismatischen Präsidenten selbst, war wahrscheinlich auch ausschlaggebend dafür, Roosevelt drei Mal in Folge ins Amt zu wählen, so Thomas Fröschl:
Thomas Fröschl, Professor für Geschichte: Dieses Vertrauen beruhte auf der Ausstrahlung einer Persönlichkeit, die selbst glaubhaft den Wählerinnen und Wählern vermitteln konnte, dass er mit schweren Krisen und Problemen fertig wurde. Man wusste von seiner Krankheit, man wusste in weiten Kreisen der amerikanischen Bevölkerung aber nicht, dass er nicht gehen konnte. Er ging langsam und musste getragen werden. Weitgehend bis zu seinem Tod wusste man nicht, dass er im Rollstuhl saß. Man wusste aber, dass er diese Krankheit überstanden hatte und dass er einen Optimismus ausgestrahlte, der ansteckend war. Er konnte Menschen aus der Verzweiflung retten und ihnen den Glauben an Möglichkeiten im amerikanischen System wieder gegeben.
Barbara Tschandl, Sprecherin: Welches Bild des Präsidenten an die Öffentlichkeit dringen kann, wird jedoch genau kontrolliert. Der fotogene Roosevelt zeigt sich stets strahlend, mit einem großen Lächeln und präzis kalkulierter Körpersprache. Um die Beinlähmung zu überspielen, wird auf Fotos der Oberkörper betont. Bildjournalisten verpflichteten sich "freiwillig", den Präsidenten niemals in Situationen zu fotografieren, die an seiner körperlichen Fitness zweifeln lassen könnten. Hielten sie sich nicht an die Abmachung, riskierten sie eine Akkreditierung beim Weißen Haus.
Roosevelt weiß auch den Hörfunk zu seinem Vorteil zu nutzen. Universitätsprofessor Thomas Fröschl erklärt, wie er sich in den sogenannten Fireside Chats im Radio präsentiert.
Thomas Fröschl, Professor für Geschichte: Das waren wöchentliche Radioansprachen an die amerikanische Bevölkerung. Das ist eine Tradition, die es bis heute gibt. Der Präsident spricht einmal in der Woche über das Radio zu den Leuten. Und er sprach über die Lage der Nation, über die Wirtschaftssituation, über die Politik. Es war das Bild eines Onkels, eines Vaters, eines Freundes, der einem die Lage der Nation erklärt. Und er vermittelte durch seine Stimme – auch seine Stimme ist hier wichtig – eine starke Persönlichkeit. Er hatte eine Ausstrahlung, die grundsätzlich Vertrauen erweckte.
Barbara Tschandl, Sprecherin: Roosevelt ist bis zum Zeitpunkt seines Todes im Jahr 1945 Präsident der Vereinigten Staaten. So führt er die USA durch den 2. Weltkrieg und bezieht mit dem Grundsatz "Germany first" zusammen mit Großbritannien klar Position gegen Hitlers Deutsches Reich.
Während des Kriegs gibt er Adolf Hitler auch Contra, indem er sich auf seine jüdischen Vorfahren beruft. Roosevelts Name stammt ursprünglich von den Rosenveldts ab, die einige Generationen vor Franklins Zeit lebten.
Das zeitliche Nebeneinander von Hitler und Roosevelt findet Thomas Fröschl auch von einem anderen Gesichtspunkt her erstaunlich:
Thomas Fröschl, Professor für Geschichte: Es war für mich immer höchst bemerkenswert zu sehen, dass in Berlin Adolf Hitler deutscher Kanzler im Dritten Reich war, der ein Programm der Menschenvernichtung und Menschenzerstörung vorangetrieben hat. Für den der Begriff des unwerten Lebens selbstverständlich war, der, wie wir alle wissen, behinderte Menschen ermorden ließ. Und dass gleichzeitig zwölf Jahre im Weißen Haus in Washington ein Präsident sitzt, der behindert war - in der damaligen Terminologie müsste man sagen, der ein Krüppel gewesen ist. - Ein Wort, das man heute zum Glück nicht mehr ausspricht. - Aber dass hier zwei Männer einander gegenüber saßen, die unterschiedlicher nicht sein konnten.
Barbara Tschandl, Sprecherin: Kurz vor Kriegsende, am 12. April 1945, stirbt der Präsident an einer Hirnblutung.
Thomas Fröschl, Professor für Geschichte: Roosevelt war die Hoffnung der Demokraten in Europa. Er war die Hoffnung in Frankreich. Er war auch die Hoffnung einer Opposition in Deutschland. Aber was wichtig ist, er war der Präsident, der letztlich das Dritte Reich besiegte. Und man kann in Europa, also in Frankreich, in Großbritannien, in Spanien, überall man kann das nachlesen: 1945 als er gestorben ist, war ganz Europa in Trauer. - Also jenes Europa, das auf der Seite der Alliierten gegen Deutschland gekämpft hat. Es war also ein Schockerlebnis für die Amerikaner und auch damals für die Europäer.
Barbara Tschandl, Sprecherin: Das Bild des zuversichtlich lächelnden, ausdrucksstarken Roosevelts, mit Kneifer auf der Nase, Zigarettenspitze selbstbewusst nach oben gerichtet, ist nach wie vor nicht in Vergessenheit geraten. Trotz oder gerade wegen seiner Behinderung hat er Karriere gemacht und es bis an die politische Spitze der Vereinigten Staaten geschafft. Eine Krankheit, für die es keine Hoffnung auf Heilung gab, hielt ihn nicht davon ab, einem wirtschaftlich schlecht gestellten Land wieder auf die Beine zu helfen.
Musik
Barbara Tschandl, Sprecherin: Einen politischen Weg hat auch Gunther Trübswasser eingeschlagen. Er ist seit 1997 für die Grünen im Oberösterreichischen Landtag tätig, wo er sich in den Bereichen Kultur, Migration, Menschenrechte und Verkehr einsetzt. Sein Interesse an Politik und Menschenrechten begleitet ihn schon lange. Die Entscheidung, das Interesse zum Beruf zu machen, lässt sich auch aus seinen persönlichen Erfahrungen erklären, meint der Landtagsabgeordnete.
Gunther Trübswasser, Landtagsabgeordneter der Grünen OÖ: Für mich waren das sicherlich zwei markante Ereignisse oder Erfahrungen, die ich in früher Jugend machen konnte. Zum einen bin ich das Kind einer Flüchtlingsfamilie, zum anderen erkrankte ich im Alter von vier Jahren an Kinderlähmung. Das hat natürlich ganz massiv in mein Leben eingegriffen. Entweder man resigniert und gibt auf und „nimmt das zu Kenntnis“, oder man kämpft dagegen an und versucht, mit den Erfahrungen was Positives zu machen.
Barbara Tschandl, Sprecherin: An beide dieser prägenden Eingriffe in sein Leben erinnert sich Gunther Trübswasser noch gut.
Gunther Trübswasser, Landtagsabgeordneter der Grünen OÖ: In meiner Jugend als Kind von Flüchtlingseltern machte ich das auch durch, was jetzt viele, mit denen ich zu tun habe, heute durchmachen: Aufenthaltsgenehmigungen, Verlängerung von irgendwelchen Bescheiden. Mit neunzehn bekam ich erst die österreichische Staatsbürgerschaft. Also, die Situation fremd zu sein und das Gefühl zu haben: 'Irgendwie gehört man nicht daher' - das habe ich schon sehr eindringlich erlebt. Und die Erkrankung - ich denke, ich war so beschäftigt mit Therapien und mit allen möglichen medizinischen Maßnahmen. Das war ein Teil meiner Jugend, wo andere Ferien in Ferienlagern verbrachten, habe ich die Zeit in Bädern verbracht - mit viel Training und Therapien. Beide sind ursprünglich nicht negative Erlebnisse, sie sind markant.
Barbara Tschandl, Sprecherin: Seine persönliche Geschichte und seine tschechischen Wurzeln haben auch sein Interesse an sozialen Verhältnissen und kulturellen Bedingungen geweckt. Gunther Trübswasser interessierte sich für Musik und Literatur und entwickelte Neugier an seinem sozialen Umfeld.
Gunther Trübswasser, Landtagsabgeordneter der Grünen OÖ: So entsteht langsam ein Wunsch nach Weltoffenheit, ein Wunsch nach Begegnungen, gegen Diskriminierungen anzukämpfen. Das sind Dinge, die entstehen, ohne dass ich jetzt vorhatte, Politiker zu werden. Und irgendwann einmal sagt man sich: 'Wie kann ich das am besten umsetzen? In NGOS, in Vereinen oder im Freundeskreis?' Und da entstand dann irgendwann die Idee und es kam die Einladung: 'Ja, möchtest du das nicht im Rahmen der Grünen machen?'
Barbara Tschandl, Sprecherin: Der Abgeordnete der Grünen ist einer von wenigen Politikern mit Behinderung. Aber woran liegt das? Wie lässt es sich erklären, dass nur eine geringe Zahl von Menschen mit Behinderung die politische Karriereleiter erklimmt?
Gunther Trübswasser, Landtagsabgeordneter der Grünen OÖ: Es gibt natürlich immer wieder Vorurteile. Menschen, die eine Behinderung haben, werden gerne in einen Topf geworfen. Dabei sind die Formen von Behinderung, was das alles sein kann, genauso weit und breit wie das Leben selbst. Es gibt keine zwei vergleichbaren Menschen und es gibt auch keine zwei gleichen Behinderungen. Ich glaube, viele Menschen, die eine Behinderung haben, haben die Erfahrung gemacht, dass ihnen ein Recht auf selbstständiges Handeln, selbstständiges Denken und selbstständiges Ziele Verfolgen, nicht zugetraut wird. Das ist so eine milde Form der Diskriminierung. Man muss sich schon durchkämpfen, um zu beweisen, dass es nicht so ist. Und das andere ist, dass Menschen, die eine Behinderung haben, tatsächlich in ihrer Mobilität, in ihren Bildungschancen, in ihren Aktionsradien benachteiligt sind.
Barbara Tschandl, Sprecherin: Hindernisse können zum Beispiel Schul- oder Universitätsgebäude sein, die nicht barrierefrei zugänglich sind. Die freie Wahl der Bildungsmöglichkeit ist dadurch eingeschränkt. Andererseits kann eine äußerliche Auffälligkeit in der Politik auch von Vorteil sein: Betroffene haben dadurch einen hohen Wiedererkennungswert.
Gunther Trübswasser erzählt, dass er durch seine Behinderung die Umgebung anders wahrgenommen hat als seine Freunde. Während die anderen Kinder in Dimensionen wie Stadtteilen und Fußballfeldern gedacht haben, war Trübswassers Betätigungsfeld viel kleiner.
Gunther Trübswasser, Landtagsabgeordneter der Grünen OÖ: Wir hatten eine Wohnung, die sehr klein war. Wir hatten zu der Zeit auch keinen Garten und so habe ich mir ein kleines Rasenstück - vielleicht so etwas, wie Dürer es gezeichnet hat - im Vorhaus gemacht. Dort habe ich Blumen, die ich nicht so ohne weiteres sehen konnte, vor der Haustüre gesammelt und beobachtet, dass in diesem Rasenstück auch Käfer und Ameisen und Regenwürmer waren. Also, es war „ein Ausschnitt der Welt“. Ich konnte natürlich die paar Duzend Pflanzen, die auf diesem Stück waren, mit Namen nennen und wusste, wann sie blühten. Ich setzte mich damit auseinander. Das ist mir wahrscheinlich immer geblieben, dass ich versuche, auch Details zu erkennen.
Musik
Barbara Tschandl, Sprecherin: Wie geht man mit seiner Behinderung um, wenn man durch seinen Beruf in der Öffentlichkeit steht? Franklin D. Roosevelt ließ sich nur in bestimmten Situationen und Bildausschnitten fotografieren. Er präsentierte sich als aufrecht gehender und stehender Präsident. - Aber was wäre gewesen, hätte Roosevelt sich auch öffentlich im Rollstuhl sitzend gezeigt?
Christian Mürner, Behindertenpädagoge und Publizist, denkt darüber nach, ob ein Präsident der Vereinigten Staaten seine Schwächen offen zeigen darf.
Christian Mürner, Behindertenpädagoge und Publizist: Das ist von der Sichtweise abhängig. Wenn man von dem vorherrschenden politischen System ausgeht, ist das glaube ich kaum möglich. - Also, auch in Europa kaum. Wenn man es rein auf einer human- oder humanistischen Ebene sieht, dann wäre das einzige Richtige, finde ich, die Fehlerfreundlichkeit – also, dass man damit offen und ehrlich umgeht.
Barbara Tschandl, Sprecherin: Auch in der Frage, welches Bild heute von dem Präsidenten vermittelt werden sollte, gibt es gegensätzliche Meinungen. Teil des Franklin Delano Roosevelt Memorials in Washington DC zeigt den Präsidenten im Rollstuhl. Es ist ein Denkmal, das für Kontroversen gesorgt hat.
Christian Mürner, Behindertenpädagoge und Publizist: Jetzt haben Behindertenverbände in den USA mit dem Argument protestiert, die Behinderung habe Roosevelts Willensstärke eigentlich erst hervorgebracht oder gefestigt. Deshalb müsse der Rollstuhl gut sichtbar oder besser sichtbar sein. Und die Denkmalkommission sagte dann: 'Moment, es geht gar nicht um ein Denkmal für behinderte Menschen, sondern es geht um ein Denkmal für Roosevelt.' Und dann brachten sie natürlich das Argument: 'Roosevelt habe selber darauf geachtet, dass man ihn nicht im Rollstuhl sieht'. – Es gibt, glaube ich, nur zwei überlieferte Fotos. Aber dann argumentierte man: 'Die Zeiten haben sich aber jetzt geändert' und: 'Heute geht man eben offensiver mit Behinderung um'. Warum schließt man nicht aus Roosevelts Persönlichkeit: 'Heute würde er, weil die Zeiten sich geändert haben, ganz anders auftreten und sich auch im Rollstuhl zeigen.'
Barbara Tschandl, Sprecherin: Darüber, warum Roosevelt Krücken und Rollstuhl versteckte, kann man heute nur spekulieren.
Gunther Trübswasser, Landtagsabgeordneter der Grünen OÖ: Das ist schon der Ausdruck dafür, dass er damit nicht ganz fertig wurde oder dass auch die Gesellschaft nicht damit fertig wurde. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob diese Probleme, sich als behinderter Mensch in der Öffentlichkeit zu zeigen, nur seine Probleme waren. Es kann durchaus sein, dass man ihm sagte, und vielleicht Meinungsumfragen dazu machte, er solle es möglichst wenig zeigen oder er solle sich möglichst so fotografieren lassen, dass man den Rollstuhl nicht sieht.
Musik
Barbara Tschandl, Sprecherin: Hätte die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung Roosevelt auch gewählt, wenn er als Rollstuhlfahrer in die Öffentlichkeit getreten wäre? Beispiele aus der Gegenwart könnten eine Antwort auf diese Frage geben.
Thomas Fröschl, Professor für Geschichte: Vielleicht ist es bekannt, dass der jetzige deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble auch im Rollstuhl sitzt, dass es ein Attentat auf ihn gegeben hat, dass er einer der großen Rising Stars der CDU war und dass man ihm schon die Kanzlerschaft durchaus zugetraut hätte. Jetzt sitzt er im Rollstuhl, das ist bekannt, das wird gesehen. Die Frage ist: Würden die Deutschen heute in ihrer bewältigenden Mehrheit jemanden als Bundeskanzler wählen, der im Rollstuhl sitzt? Das zweite ist: Wie hätten die Amerikaner das wahrgenommen? Das ist sehr schwer zu sagen, auch heute noch. Aber in einer Zeit, die immer noch im Schatten einer Überzeugung stand, dass das Kräftige, das Starke, Gesunde doch das Bessere ist, hat er sich vielleicht damit schwer getan. Und so würde ich sagen, war es von Roosevelt, das ist jetzt natürlich meine persönliche Einschätzung, eher ein Akt der Klugheit und nicht so sehr des Versteckens oder des sich dafür Schämens.
Gunther Trübswasser, Landtagsabgeordneter der Grünen OÖ: Die Behinderung ist nicht zu trennen von anderen „Makeln“, die Menschen haben können. Wir haben jetzt das aktuelle Beispiel: Darf ein US-amerikanischer Präsident schwarze Hautfarbe haben?
Thomas Fröschl, Professor für Geschichte: Ich glaube, dass das sehr stark mit den Zeitumständen zu tun hat und man müsste auch heute die Frage stellen: Würde man jemanden im Rollstuhl wählen? Ich glaube das auf jeden Fall. Wenn Sie sich die Situation ansehen, dass im letzten Vorwahlkampf der Demokraten seit Hillary Clinton eine Frau an der Spitze der USA kein Thema mehr ist. Also, eine gute Frau wird gewählt. Und jetzt haben wir einen Schwarzafrikaner, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten ist. Das sind Situationen, die vor 30 und 40 Jahren noch undenkbar gewesen wären. Man muss natürlich auch die Frage stellen, ob ein Schwarzafrikaner in Österreich je zum Präsidenten gewählt werden würde.
Musik
Raphael Sas, Sprecher: Sie hörten den zweiten Teil der Sendereihe von Berühmt – Beliebt – Behindert. Eine Sendung über außergewöhnliche Leistungen von Menschen mit Behinderung.
Gestaltung: Julia Karrer
Sprecher: Barbara Tschandl und Raphael Sas
Technik: Martin Leitner.
Nächste Woche hören Sie an dieser Stelle eine Aufzeichnung aus dem ORF-KulturCafe mit dem Titel „Immer vorn dabei – Menschen mit Behinderung als Trendsetter in Elektronik und Technik“.
Menschen mit Behinderungen sind ständig gezwungen, neue innovative Lösungen für ihre alltäglichen Probleme zu suchen. So zählten gehörlose Menschen zu den ersten, die das Potenzial der SMS erkannten. Für Sie war die schriftliche Kommunikation via Handy eine willkommene Ergänzung zu Gebärdensprache und E-Mail. –Doch was bringt der technologische Fortschritt Menschen mit Behinderungen? Wir laden dazu ZukunftsforscherInnen, Betroffene und TechnikexpertInnen ein.
Best Practice Signation