Inhalt:
.Computer, Kampfsport, gehörlos: Zwei gehörlose Menschen im Porträt
Im vierten und letzten Teil der Reihe Lebens- und Arbeitswelten beschäftigen wir uns mit den Biografien zweier gehörloser Menschen, die es geschafft haben, ihre Berufswünsche zu realisieren.
"Und der Lehrgangsleiter hat gemeint, ich soll mir ein Diktaphon mitnehmen. Ich schaue ihn an und sage: Und? Und dann sagt er: Und zu Hause kannst du es dir dann ganz genau anhören. Ich darauf: Das geht nicht. Ich kann mir das nicht anhören, das funktioniert für mich nicht."
Computer, Kampfsport, gehörlos. Zwei gehörlose Menschen im Porträt. Eine Sendung von Katharina Zabransky und Wolfgang Slapansky
Musik
Sprecherin: Florian Katzmayr lebt und arbeitet in Krems. Er ist verheiratet, sein Sohn ist ein Jahr alt. Er ist ein junger, dynamischer Dreißigjähriger. Er ist Programmierer. Seit seiner Geburt ist er gehörlos. Florian Katzmayr hat einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester. Sein Vater ist gestorben, als Florian sechs Jahre alt war.
Seine Mutter hatte immer das Gefühl, dass Florian die Fähigkeiten des Vaters geerbt hat. Sie traute ihm sehr viel zu, und sah, dass er ähnliche Fähigkeiten wie sein Bruder hatte. Er war beim Österreichischen Gehörlosenbund aktiv und ist schon seit der Gründung beim VÖGS, dem Verband der gehörlosen Stundierenden tätig.
Florian Katzmayr ging parallel in zwei Kindergartengruppen in Wien Speising. Die eine war für gehörlose Kinder, dort lernten die Kinder sprechen. Die andere Gruppe war für normal hörende Kinder.
Florian Katzmayr: Der Grund war jener, dass meine Mutter wollte, dass ich auch mit den hörenden Kindern kommunizieren lerne. Die Mama hatte einfach Angst, dass ich, wenn ich nur unter Gehörlosen bin ... dass sich dann meine Kommunikation nicht so ausbildet.
Sprecherin: Für Florian Katzmayr übersetzt die Gebärdendolmetscherin Sabine Zeller.
In der ersten Volksschulklasse besuchte er eine Integrationsklasse, gemeinsam mit hörenden Kindern.
Florian Katzmayr: Die Lehrerin hat nur gesprochen und ich hab damit wirklich fast nichts verstanden. Und es war sehr schwer für mich, mich zu konzentrieren. Die Lehrerin hat dann immer das Gefühl gehabt, ich passe nicht auf und das war eine sehr schwierige Situation. Und sie hat irgendwie so das Gefühl gehabt, ich wäre faul, deshalb habe ich dann umso mehr Hausaufgaben und vor allem schwierige Hausaufgaben erhalten.
Sprecherin: Die Mutter wunderte sich darüber, dass Florian so schwierige Aufgaben hatte. Deshalb führte sie ein Gespräch mit der Lehrerin.
Florian Katzmayr: Man hat es jetzt nicht explizit als Strafe bezeichnet, aber mehr oder weniger wollte man mir zeigen wo es langgeht. Und darüber war natürlich meine Mutter nicht begeistert.
Sprecherin: Nach einem weiteren Gespräch mit der Lehrerin und dem Schuldirektor entschied seine Mutter, dass Florian Katzmayr in eine Vorschulklasse kommen sollte. Nach zwei Monaten brach er also die erste Volksschulklasse ab.
Florian Katzmayr: Ich hab damals geweint, weil ich habe, also für mich war das natürlich komisch: Ich werde jetzt abgestuft, man will mich nicht.
Sprecherin: Die Mutter erhielt die Information, dass die Volksschule in Speising im Bundesinstitut für Gehörlosenbildung ein niedrigeres Niveau hätte, als die Schwerhörigenschule, die damals im 4. Bezirk, in der Waltergasse, angesiedelt war. Deshalb entschied sie, Florian in die Waltergasse zu geben.
Musik
Sprecherin: Auch die Hauptschule hat Florian Katzmayr in der Schwerhörigenschule, mit oralem Unterricht besucht. Am Ende machte er sich Gedanken über seine Zukunft. Einer seiner Hauptschullehrer empfahl ihm, einen Handwerksberuf zu wählen.
Florian Katzmayr: Dann hab ich mir gedacht, vielleicht wäre der Beruf des Lehrers etwas für mich. Und mein Hauptschullehrer hat gemeint, das wäre nicht gut für mich, denn dafür bräuchte man eine Matura. Und eine Matura …das kannst du nicht machen. Es wäre günstiger, wenn du einen anderen Beruf wählen würdest, wie zum Beispiel Tischler.
Sprecherin: Durch ein Gespräch mit seinen Geschwistern kam er auf die Idee, selbst Matura zu machen. Durch seine Interessen wollte er sie in einer technischen Schule machen. Seine Mutter hat sich nach einer Schule umgesehen. Sie ging zum Wiener Stadtschulrat. Bei einem Gespräch mit einem Hauptschullehrer wurde Florian Katzmayr nochmals vom Besuch der HTL abgeraten.
Florian Katzmayr: Wir sind zusammen gesessen und der Lehrer hat uns gefragt, ob wir denn jetzt schon eine Entscheidung getroffen hätten, was unsere Zukunft anbelangt. Und ich hab dann zugegeben: Ich will eine HTL besuchen, die in der Ungargasse, und will dort maturieren. Der Lehrer war dann etwas skeptisch und hat gemeint, dass diese Schule schon besonders schwierig für mich sei und ich sollte mir doch einen leichteren Weg wählen.
Sprecherin: Die Aufnahmeprüfung bestand er problemlos. Die Aussage des Lehrers verwunderte auch seine Mutter. Sie sagte Florian Katzmayr, dass er selber entscheiden müsse! Auch sein Bruder riet ihm, die HTL zumindest zu versuchen. In der HTL traf er zwei gehörlose Kolleginnen. Die eine war sehr gebärdensprachkompetent und konnte gut sprechen. Mit ihr konnte er sehr gut kommunizieren. Im Deutschunterricht gab es Stützlehrer, weil viel gesprochen wurde. Für die anderen Fächer reichten die Unterlagen.
Florian Katzmayr war fünf Jahre in der HTL, im Zweig „Wirtschaftsingenieurwesen und Betriebsinformatik mit Spezialisierung Wirtschaftsinformatik“. Nach der Matura überlegte er, welchen Ausbildungsweg er weiter gehen sollte. Ein langes, theoretisches Studium hat ihn abgeschreckt. So ging er zur BeSt, der Messe für Beruf, Studium und Weiterbildung.
Florian Katzmayr: Und dann sah ich dieses große Plakat: Fachhochschule Wiener Neustadt. Das war irgendwie so gestaltet .., das hat mich wahnsinnig beeindruckt und hat auf mich gewirkt. Es hat so zukunftsorientiert ausgesehen.
Sprecherin: Florian Katzmayr erzählte der Dame am dazugehörigen Messestand von seinen Interessen: EDV und Computerentwicklung.
Florian Katzmayr: Und sie hat dann gemeint: „ Das ist (hier) eigentlich genau richtig. „Und ich hab sie dann noch einmal darauf hingewiesen, dass ich gehörlos bin, und wie sie sich das vorstellen kann. Und dann hat sie gemeint: „Gerade im Bereich der Computer ist natürlich ganz viel praktische Arbeit am Computer und sehr viel Gruppenarbeit.“ Und dann habe ich mir gedacht, na gut, dann probierst du’s mal, und meldest dich an.
Sprecherin: Er ging zur Aufnahmsprüfung und hat sie bestanden.
Musik
Florian Katzmayr: Das war ein Vorlesungssaal, der wirklich zum Bersten voll war und ich bin dort gesessen. Die Hörenden, wow, die haben diskutiert und geredet und ich sitze da dazwischen und ich kann ihnen nicht folgen. Ich bin dann zum Professor gegangen und ich habe ihm gesagt, ob es nicht möglich wäre, dass ich die Unterlagen bekomme, weil ich gehörlos bin. Dann hat er gemeint: Da ist das Buch und da steht alles drinnen! Das war ein dicker Schmöker, das war für mich unmöglich …
Es wäre für mich auch interessant, seine Vorlesungsinhalte, die er gerade bringt, zu wissen, und dass er da einen Vermerk, einen Verweis auf die Stellen im Buch macht. Dann hat er gemeint: “Nein das geht nicht!“
Sprecherin: Er ging zum Studienlehrgangsleiter ...
Florian Katzmayr: Und ich habe ihn gefragt, wie es möglich sein kann, dass ich trotzdem an alle Informationen herankomme. Der Lehrgangsleiter hat dann gemeint, ich solle irgendwie ein Diktaphon mitnehmen. Das heißt, die Professoren reden und das wird dann aufgenommen. Ich schaue ihn dann an, und sage: „Und?“ Und dann sagt er: „Und zu Hause kannst du es dir dann ganz genau anhören.“ Ich habe ihn dann angeschaut und gesagt: „Das geht nicht. Ich kann mir das nicht anhören, das funktioniert für mich nicht“.
Sprecherin: Danach ging er zur für den technischen Bereich verantwortlichen Mitarbeiterin der FH und berichtete darüber, dass es so schwierig wäre, die Vorlesungsunterlagen von den Vortragenden zu bekommen. Sie versprach, ihm zu den entsprechenden Unterlagen zu verhelfen. Bei diversen Problemen sollte er sich an sie wenden.
Florian Katzmayr: Sie hat sich sehr bemüht, und ich hab dann letzten Endes die Unterlagen erhalten. Und das hat somit gepasst.
Sprecherin: Er bemühte sich, zu Studenten aus höheren Jahrgängen Kontakt aufzunehmen und ging wieder in die Sprechstunde zum Professor.
Florian Katzmayr: Ich habe dann den Professor noch einmal in der Sprechstunde aufgesucht. Ich habe mich ihm gegenüber hingesetzt und habe versucht, mit ihm direkt zu kommunizieren. Er hat irgendwie eine sehr legere Körperhaltung eingenommen – wie soll ich sagen – und ich kann nicht sagen, dass er sich recht bemüht hätte.
Daraufhin habe ich ihm einen Zettel und einen Kugelschreiber hingelegt und gesagt, er soll das doch bitte aufschreiben. Und so habe ich ihm dann erklärt, wie meine Situation aussieht. Er hat sich dann bemüht, mir schriftlich zu antworten. Ich habe mir das dann durchgelesen, und ich habe ihn gefragt, was denn zur Prüfung kommt. Und er sagte mir: Alles von den Unterlagen. Dann habe ich gesagt: Ich kenne das aber von der ersten Prüfung, ich war bei Ihnen, und dann hat es geheißen, es kommt doch das, was in der Vorlesung gesprochen wird.
Sprecherin: Der Professor gab ihm unveröffentlichte Unterlagen, die nur für Florian Katzmayr persönlich waren. Darin fehlten allerdings auch noch 30 Prozent des in der Vorlesung Gesagten. Florian Katzmayr bedankte sich, er war beruhigt und begann gründlich zu lernen. So hat er diese Prüfung geschafft.
Die Diplomarbeit zu schreiben war für ihn schwierig, nicht wegen des Inhaltes, sondern wegen den Formulierungen bzw. der technischen Fachsprache, die sich von der Umgangssprache sehr unterscheidet. Durch die Hilfe seiner Tante und seiner Schwester konnte er sie fertig schreiben. Nach dem Abschluss der Fachhochschule wollte Florian Katzmayr eigentlich an der Universität studieren, gleichzeitig brauchte er aber auch einen Job.
Er begann, Bewerbungen zu schreiben. Einige Bekannte gaben ihm den Tipp, seine Gehörlosigkeit darin nicht zu erwähnen, um nicht gleich abgelehnt zu werden. Florian Katzmayr hielt sich nicht daran, weil er meinte, diese Vorinformation geben zu müssen. Auf diverse Bewerbungen bekam er Absagen und wurde nicht einmal zu Gesprächen eingeladen.
Musik
Florian Katzmayr: Und dann hat mich mein Bekannter aufmerksam gemacht : “Ich habe es dir gesagt, da steht gehörlos und die laden dich nicht einmal ein.“ Dann hab ich mir gedacht, ich lasse es einmal weg und schicke die Bewerbung ohne „gehörlos“. Und man hat mich zu einem Gespräch eingeladen.
Ich bin dann dort hingekommen, habe denen gesagt, dass ich nichts höre, dass ich aber von den Lippen ganz gut ablesen kann und dass man mit mir durchaus kommunizieren kann. Ich habe dann gemerkt, mein Gegenüber ist ein bisschen schüchtern und zurückhaltender geworden. Aber ich habe dann darauf losgeredet und ich bin angestellt worden. Fertig.
Sprecherin: Die Firma IT-Design ist eine Dienstleistungsfirma. Für ihre Kunden, zumeist Firmen, oder auch das Bundesrechenzentrum, stellt sie Computertechnik zusammen. Die Mitarbeiter programmieren und erarbeiten Strategien und Lösungen. Nach einer Probezeit wurde Florian Katzmayr fix angestellt, weil er sich als schneller, guter Arbeiter erwies.
Florian Katzmayr: Und mit meinem Kollegen – ich hatte nämlich einen Kollegen, das war so mein Ansprechpartner – der hat mir oft mitgeteilt, was sich der Kunde alles wünscht, was er alles will und ich habe dann an der Lösung gearbeitet. Ich habe mir die überlegt und habe sie schriftlich festgehalten, und der Kollege hat sie dann mitgeteilt. Und dann ist zum Beispiel der Auftrag gekommen: Okay, bitte führen Sie es auch durch.
Sprecherin: Bei den monatlichen Teambesprechungen waren immer Dolmetscher anwesend. Diese wurden vom Bundessozialamt bezahlt. Auf die Frage, wie er zu seinem neuen Arbeitsplatz kam, antwortet er:
Florian Katzmayr: Meine Frau ist auch gehörlos. Sie wohnt in Krems-Umgebung und wollte auch gerne in ihrer Heimat bleiben. Und somit kam es dazu, dass ich hier hergezogen bin.
Sprecherin: Das Pendeln in seine Firma in Wien war mühsam. Auch durch die Geburt seines Sohnes im letzten Jahr brauchte er einen Arbeitsplatz in Wohnortnähe. Beim Suchen stieß er auf eine Annonce.
Florian Katzmayr: Und dann war es wirklich zufällig, ich habe in der Liste – ich habe ja damals Arbeit gesucht – gelesen: Ein Programmiere wird gesucht. Ich habe mir das angeschaut,“oops“, die Fachhochschule Krems sucht jemanden.
Sprecherin: Er schickte ein Bewerbungsschreiben und wurde zu einem Gespräch mit dem Verantwortlichen des EDV-Bereichs eingeladen. Das war im Juni 2009. Auf die Frage, ob man Informationen zum Thema Gehörlosigkeit bräuchte, antwortete der Chef:
Florian Katzmayr: Nein brauche ich nicht, ich kenne mich aus. Was nämlich ganz spannend war: Dass von diesem Chef die Mutter beim Landesverband der niederösterreichischen Gehörlosen arbeitet.
Sprecherin: Der Chef wusste über das Thema Gehörlosigkeit Bescheid, und konnte die Gebärdensprache.
Florian Katzmayr: Das war für mich natürlich super.
Sprecherin: Im EDV-Bereich der Fachhochschule gibt es die Abteilungen Support, Netzwerktechnik und drei Programmierer – Florian Katzmayr ist einer von ihnen.
Seine Arbeit besteht zum Großteil darin, Programme zu schreiben. Zum Beispiel eine Evaluation über die Zufriedenheit der Studenten, die auf der Homepage durchgeführt wird. Florian Katzmayrs Aufgabe war es, diese Homepage zu programmieren und eine Datenbank zur Sicherung der Informationen zu gestalten. Dafür erstellte er auch das Hintergrundprogramm für die Berechnung.
An seinem jetzigen Arbeitsplatz braucht er keine Dolmetscher. Sein Chef kann ja Gebärden. Zum Abschluss noch ein paar persönliche Fragen an Florian Katzmayr:
Was ist Ihr Lieblingsbuch?
Florian Katzmayr: Bücher zur Entspannung. Comics in dem Fall. Ich liebe überhaupt Humor und Witz, das ist für mich die Entspannung. Denn ich denke, das Programmieren ist ernst genug, da braucht man einen Ausgleich.
Sprecherin: Als Lieblingsfilme nennt er Fantasyfilme, zum Beispiel „Herr der Ringe“. Und Filme mit guten visuellen Effekten, auch spannende Diskussionen und Kriminalfilme.
Musik
Sprecherin: Szenenwechsel. Von der modernen, erst vor wenigen Jahren eröffneten Fachhochschule in Krems ins alterwürdige Postsparkassengebäude an der Wiener Ringstraße. Das Gebäude ist eines der bekanntesten Jugendstiljuwele Wiens, errichtet Anfang des 20. Jahrhunderts nach Plänen von Otto Wagner.
In einem Sitzungssaal treffen wir Brigitte Göbl. Die heute 39-jährige Mutter zweier Kinder ist bei der Bawag-PSK beschäftigt. Die Bawag-PSK ist die fünftgrößte Bank Österreichs und entstand vor fünf Jahren durch die Fusion der Bawag, der Bank für Arbeit und Wirtschaft, und der Österreichischen Postsparkasse. Die Bank befindet sich heute im Mehrheitsbesitz eines US-amerikanischen Investmentkonzerns. Brigitte Göbl ist seit 1. April 1994 hier angestellt. Ihr Tätigkeitsbereich:
Brigitte Göbl: Jetzt bin ich im Bereich DC Organisationsentwicklung und Kommunikation. In dieser Abteilung bin ich jetzt tätig. Und das gefällt mir sehr, das interessiert mich sehr. Da krieg ich auch viel mehr über den Ablauf und Veränderungen in der Struktur der Firma mit. Jeden Monat verändert sich da was. Und jetzt arbeite ich für zwei Gruppen, für das Sponsoring und für Gemeinschaftsanlagen. Und der zweite Bereich, in dem ich eben tätig bin, ist die Organisationsentwicklung.
Sprecherin: Über ihren derzeitigen Aufgabenbereich erzählt Brigitte Göbl in der Gebärdensprache. Denn sie ist seit Geburt gehörlos. Übersetzt wird sie von der Gebärdendolmetscherin Patricia Brück. Es war ein ziemlich schwieriger Weg, als Gehörlose einen Job zu finden, erzählt Brigitte Göbl.
Brigitte Göbl: Alleine, nur mit meinen Bewerbungsgesprächen, ohne persönliche Intervention, hätte ich wahrscheinlich nichts gefunden. Die meisten Gehörlosen aus meiner Generation haben ihre Chancen durch persönliche Intervention bekommen.
Sprecherin: So war es eben auch bei Brigitte Göbl. Ihr Vater war in der Politik tätig, als Wiener Gemeinderat. Er kannte den früheren Bawag-Vorstandsvorsitzenden Walter Flöttl, und dieser ermöglichte die Anstellung. Die Jobsuche vorher war trotz abgelegter Matura zermürbend.
Brigitte Göbl: Als ich dann die Matura hatte, habe ich mir gedacht, ich will sozusagen fertig sein und möchte gleich anfangen zu arbeiten, aber ich habe sehr wenige Chancen gehabt. Man hat mir immer gesagt: „Dass Sie nicht telefonieren können, ist ein Riesenproblem.“ Damals konnten sich die Leute den Umgang mit Gehörlosen nicht vorstellen, oder nicht vorstellen, wie sie mit mir ohne Telefon zusammen arbeiten können.
Ich habe mich ein Jahr lang beworben und mich wirklich bemüht. Ich war bei einigen Vorstellungsterminen, da hat man mir gesagt, man wird jetzt darüber nachdenken. Damals gab es noch keine Dolmetscher, das heißt ich bin dort alleine hingegangen, habe alleine kommuniziert.
Sprecherin: In der Bawag fand sich jedoch ein Arbeitsplatz, bei dem Telefonieren nicht notwendig war.
Brigitte Göbl: In der ersten Phase war ich in der Abteilung für Sicherheit. Da ging es um Zugangskarten und Schlüssel, wenn die Leute ihre Karten vergessen hatten, also Ersatzkarten ausstellen, ausfolgen oder auch programmieren, in dem Zusammenhang. Das war okay, das war für mich auch ein Vorteil. Ich hab sozusagen viele Leute kennen gelernt, dadurch, dass sie eben zu mir kommen mussten, wenn sie ihre Karten vergessen haben. Das heißt, so konnte ich die Kommunikation mit den fremden Kollegen aufbauen und immer mehr Leute kennen lernen.
Sprecherin: So ist Brigitte Göbl dann langsam in den Job hineingewachsen. Die Kommunikation war natürlich von Anfang an schwierig, doch ist sie es seit frühester Kindheit gewohnt, mit hörenden Menschen auf den verschiedensten Wegen zu kommunizieren. Natürlich auf einem inhaltlich sehr reduzierten Niveau.
Brigitte Göbl: Die haben gesprochen. Aber ich hab dadurch natürlich keine starke Kommunikation mit meiner Familie gehabt, (nur) die einfachen Dinge, die notwendig waren, für das tägliche Leben. Damals war es überhaupt nicht so ... es hat damals keine Gebärdensprache für mich gegeben. In der hörenden Familie war lockere Kommunikation nicht möglich. Ich habe immer versucht, mir Information zu verschaffen, und habe halt immer nur sehr kurze Zusammenfassungen bekommen. Bei vielen Dingen habe ich halt nicht gewusst, worum es genau geht. Die haben geredet, ich habe nichts verstanden, und dann habe ich halt eine Zusammenfassung gekriegt.
Sprecherin: Brigitte Göbl hat zwei Brüder, einer ist älter und einer jünger als sie. Sie war die Einzige in der Familie, die nicht hören konnte. Ihre Eltern und ihre Brüder haben keine Ahnung von Gebärdensprache gehabt. Auch im ganz normalen Kindergarten hatte sie große Probleme mit der Kommunikation. Nach dem Kindergarten ist Brigitte Göbl dann in die Schwerhörigenschule Waltergasse im 4. Bezirk gegangen.
Brigitte Göbl: Dort gab es keine Gehörlosen, sondern nur Schwerhörige, und dort wurde auch überhaupt nicht gebärdet. Ich habe zwar viel gewusst, aber ich wollte nicht sprechen. Man hat mir sozusagen angedroht, wenn ich nicht zu sprechen anfange, dann muss ich halt ins BIG.
Sprecherin: Das BIG, das Bundesinstitut für Gehörlosenbildung, war die Drohung. Doch wollte Brigitte Göbl nicht hin. Sie wollte in der Schwerhörigenschule bleiben. Und sie hat es geschafft, sowohl die Volks-, als auch die Hauptschule in der Waltergasse erfolgreich abzuschließen. Ohne Gebärdensprache und ohne spezielle Förderung.
Nach dem Hauptschulabschluss hat sie sich für eine technische Ausbildung entschieden. Nämlich in der damals einzigen integrativen, berufsbildenden Schule für Gehörlose in Österreich, die vierjährige Fachschule für Betriebstechnik, damals im 5. Bezirk, heute in der Ungargasse im 3. Bezirk in Wien. Brigitte Göbl erinnert sich an ein gutes Schulklima mit den hörenden Mitschülern.
Brigitte Göbl: Die Akzeptanz war gut, sie haben uns alle sehr gut aufgenommen, ich hatte kein Problem. Ich bin ja auch oral aufgewachsen.
Sprecherin: Doch das große Ziel war die Matura. Deshalb kam nach der Fachschule als nächster Schritt die HTL. Ihr Schulzweig war EDV und Betriebstechnik. Ohne die geringste Förderung schaffte sie es, die HTL positiv abzuschließen.
Brigitte Göbl: Es gab damals nicht einmal Stützlehrer für uns, und keine Dolmetscher natürlich. Gar nichts. Das heißt, ich musste das alles allein auskämpfen, ohne Unterstützung. Ich hatte aber ein Glück, dass im technischen Bereich sehr viele schriftliche Prüfungen waren. Wir mussten also in manchen Fächern sprechen, und es war egal, ob die anderen uns verstehen oder nicht. Ich habe der Professorin gesagt: „Das ist unmöglich.“Und sie hat gesagt: „Na, wir werden schauen, das wird schon gehen.“ Und hat uns sozusagen gezwungen, das zu tun.
Sprecherin: Nach der Matura kam dann das bereits anfangs erwähnte langwierige Suchen nach einem Job. Und noch etwas kam für Brigitte Göbl nach der Matura. Die Liebe zu fernöstlichen Kampfsportarten.
Einspielung, Melodie: Kung Fu fighting
Sprecherin: Die zierliche, fast zerbrechlich wirkende junge Frau hat es ganz weit nach oben geschafft.
Brigitte Göbl: Ich mag Kung Fu gerne. Ich war früher auch bei Wettbewerben tätig. Und ich war Weltmeisterin in einem hörenden Club. Ich war selber damals stark aktiv. Ich habe viele Preise gewonnen. Aber jetzt bin ich nicht mehr aktiv tätig, ich gebe mein Wissen an die Kinder weiter.
Sprecherin: Brigitte Göbl war viele Jahre sportlich aktiv und auch Trainerin.
Brigitte Göbl: Der Lehrmeister, er ist in Korea aufgewachsen, ist nach Deutschland gekommen und hat sein Wissen dort weitergegeben. Das hat mir sehr gut gefallen. Und ich habe dann bei ihm Unterricht genommen. Da ging es darum, mit dem Kopf mehrere Platten zu durchschlagen. Und ich habe das gelernt, also nicht mit der Hand, sondern mit dem Kopf. Wir haben (auch) mit den Händen und mit den Füßen gearbeitet, nicht nur mit dem Kopf.
Da ging es nicht um die gehörlose Welt, sondern schon um Österreich insgesamt. Ich habe also auch Hörende unterrichtet. Ich habe Kinder und Erwachsene unterrichtet, und ich habe versucht, dieses Wissen, das ich mir da geholt habe, weiter zu geben.
Musik
Sprecherin: Heute bleibe für den Sport nur mehr sehr wenig Zeit, sagt Brigitte Göbl. Heute engagiert sie sich in ihrer Freizeit im Gehörlosenbund. Derzeit etwa bei der Organisation eines Weltkindercamps. Immer wieder streicht sie die Wichtigkeit der Gebärdensprache hervor. Als Kind hatte sie keinen Zugang dazu.
Brigitte Göbl: Man kann die Inhalte jetzt in Gebärdensprache erklären, dann ist natürlich der Übergang zur Schriftsprache wesentlich leichter. Nur oral, ohne Gebärdensprache, wie ich das erlebt habe, da fehlt oft der Hintergrund, da fehlt einem etwas. Man kennt das Wort, aber man weiß nicht genau, was drinnen ist, in dem Wort, man weiß nicht genau, was es bedeutet. Durch die Gebärdensprache sehe ich: die Entwicklung meiner Kinder geht wesentlich schneller voran.
Sprecherin: Im Job ist Brigitte Göbl heute im Bereich "Organisationsentwicklung und Kommunikation" der Bawag-PSK tätig. Zuständig ist sie etwa für Sponsoring. Die neuen Medien haben ihr sehr viel gebracht. Internet, E-Mail und SMS erleichtern ihr die Kommunikation im Büro ungemein. Und sie ist – auch ohne Telefon – weit flexibler als früher. Auch Dank der Dolmetscher, die ihr etwa bei Besprechungen zur Verfügung gestellt werden.
Brigitte Göbl: Auch bei Teambesprechungen zum Beispiel, die hab ich ein bis zwei mal in der Woche, habe ich Dolmetscher dabei, damit ich mitbekomme was es gibt, oder dass ich das den anderen mitteilen kann, wenn ich Probleme habe. Das ist schon sehr wichtig.
Sprecherin: Wenn Brigitte Göbl im privaten Bereich einen Gebärdendolmetscher benötigt, dann muss sie diesen auch privat organisieren. Dafür steht ihr im Jahr ein Betrag von 2.400 Euro zur Verfügung, mit dem sie Dolmetscher bei Bedarf bezahlen kann. Das Geld dafür wird vom Sozialreferat des jeweiligen Landes ausbezahlt.
Brigitte Göbl: Wenn ich zum Beispiel Amtswege habe, oder wenn ich in die Schule gehe, zum Elternsprechtag, oder zum Elternabend oder so. Das hängt eben davon ab, was ich selber brauche. Wenn ich zum Arzt gehen muss, dann brauche ich das nur für die Kinder, die anderen Dinge, die mache ich selbst, ich komme mit meinem Arzt ohne Dolmetscher gut aus.
Sprecherin: Das Beherrschen der Gebärdensprache sei ein ganz wesentlicher Schritt Richtung Barrierefreiheit und Emanzipation, sagt Brigitte Göbl. Deshalb dürften die Budgets der Länder für Dolmetscher keinesfalls gekürzt werden, ganz im Gegenteil. Und das Erlernen der Gebärdensprache sollte so früh wie nur möglich einsetzen. Das ist Brigitte Göbls Plädoyer.
Musik
Sprecher: In der heutigen Ausgabe von Freak-Radio hörten Sie: „Computer, Kampfsport, gehörlos. Zwei gehörlose Menschen im Porträt.“
Gestaltung der Sendung: Katharina Zabransky und Wolfgang Slapansky
Redaktion: Christoph Dirnbacher. Gesprochen hat Katharina Zabransky.
Sie hörten eine Sendung aus der Reihe: Lebens- und Arbeitswelten. Das gleichnamige Projekt wird vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz gefördert.
Nähere Informationen dazu finden sie auf: www.freak-radio.at
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projektes "Lebens- und Arbeitswelten" erschienen.