Inhalt:
.Damit dein Tod nicht umsonst war ...
Schauplatz: Eine Wohngemeinschaft in Wien. Menschen mit Lernschwierigkeiten sollen ein freies Leben führen. Doch wo liegen die Grenzen zwischen "freiem Leben" und unverantwortlichem Sich-Selbst-Überlassen? Warum stirbt ein 33-jähriger Mann an einem harmlosen grippalen Infekt? Und warum tobt seit acht Jahren eine Auseinandersetzung zwischen den Verantwortlichen der Wohngemeinschaft und den Angehörigen der behinderten Menschen? Über das Leben des Alfred Kous und von fast unglaublichen Details, die die Nachbarn der Umgebung erzählen, berichtet Freak-Radio in dieser Sendung.
Signation: Freak-Radio
Moderation: Willkommen bei Freak-Radio, sagt Ihnen Gerhard Wagner. Die heutige Sendung hat einen traurigen aktuellen Anlass: Es geht um den plötzlichen Tod eines nur 33-jährigen jungen Mannes mit Lernschwierigkeiten am Heiligen Abend 2003. Wir nennen die Sendung: »Damit dein Tod nicht umsonst war...« und wollen uns diesem Menschen, Herrn Alfred Kous, nähern, den fast alle »Fredi« genannt haben. Wir von Freak-Radio haben uns in der Werkstatt, in der er zuletzt gearbeitet hat, bei seiner Mutter und ihren Freundinnen, beim Trägerverein der Wohngemeinschaft und schließlich bei den Leuten in der Umgebung, die ihn gekannt haben und die viele verschiedene Geschichten von ihm kennen, umgehört, wie die verschiedenen Leute den Fredi so erlebt haben.
Zu Beginn wollten wir wissen, was die Menschen, die mit ihm zu tun hatten, von ihm erzählen. Besonders in der Werkstatt, in der er zuletzt gearbeitet hat, erinnern sich die Leiter und vor allem auch seine KollegInnen sehr gerne an ihn.
O-Ton: "Ich habe ihn nur sehr flüchtig gekannt, aber was ich so von ihm gehört habe, war er eigentlich ein netter Bursch. Er ist sehr gerne essen gegangen." (Lachen von mehreren Personen)
"Das war ein besonderes Hobby" "Ja."
"Ich finde auch, dass der Alfred ein sehr lieber Mensch war und das hat mich auch sehr getroffen, dass er nicht mehr da ist, ich habe ihn recht lieb gefunden." "Der Alfred war ein total lieber und umgänglicher Mensch. Man hat sofort gewusst, wenn er da ist, er war einfach präsent, es hat jeder im Haus gewusst, wenn er da war und es hat sich ein jeder gefreut, denn der Alfred war einfach der Alfred.
Er hat zuerst immer an der Tür angepumpert (=angeklopft), ist reingekommen und hat gefragt, was es zum Essen gibt. Und teilweise, wenn es pumpert (=klopft), denke ich mir jetzt noch, dass der Alfred kommt, das ist total komisch. Aber der Alfred war ein total lieber Kerl..." "Das heißt, er war so stark da, dass Sie das jetzt noch spüren?" "Ja, und er war auch interessiert, er hat sich unsere Namen schnell gemerkt, er war umgänglich, er hat erzählt, was es Neues gibt und wie es ihm geht; er war wirklich sehr interessiert in der Werkstätte!
Ich hab immer so raufschauen müssen, weil er so groß war. Nett war er halt und lieb: Er war ein netter Mensch, ein lieber Mensch, mit dem hast du ..."
Moderation: Er war ein lieber Kerl, erinnert sich eine andere seiner Kolleginnen aus der Werkstätte an Fredi. Er habe zwar manchmal gestänkert, aber auch gerne gelacht:
O-Ton: (Undeutlich zu verstehen:) "Gern gelacht, manchmal hat er zwar gestänkert, aber er war ein lieber Kerl, mmm, ja, mmm!"
"Wie die Kollegen schon erwähnt haben, hat das Essen für ihn eine sehr große Bedeutung gehabt, und ich bin halt der Mann, der hier kocht, und somit haben wir eine ganz innige Freundschaft geschlossen. Die erste Fragen, wenn wir uns gesehen haben, war immer: Was gibt´s heute zu essen? Ja, und wenn es ihm geschmeckt hat, hat er mich umarmt, hat mich gedrückt und hat sich gefreut, und natürlich beim Essen, dann wenn er gekommen ist, war er immer sehr fröhlich, freundlich, also ich kann wirklich nur das Beste über ihn sagen, ein sehr, sehr lieber Kerl – und es ist schade, dass er nicht mehr bei uns ist!"
Moderation: Der Mutter fällt es noch sehr schwer, so kurz nach seinem Tod über ihren Sohn Fredi zu sprechen, immer wieder ringt sie mit den Tränen, wenn sie sich an ihn erinnert:
Mutter: Ich hab den Fredi sehr gern gehabt, er war mein Alles! Und er hat mich auch sehr gern gehabt!
Bis zum sechsten Jahr war er bei mir, und ein Jahr bei meiner Mutter; die Mutter war schon alt, dann sind wir nach Wien gekommen. Wir haben ihn in den Kindergarten gegeben und dann haben sie damals gesagt, es ist festgestellt worden, er wird behindert sein, und dann ist er dadurch in ein Heim gekommen.
Moderation: Eine Freundin der Mutter, Frau Gerda Ressl, erinnert sich an ihr erstes Erlebnis mit Fredi. Ganz sicher war sie sich damals nicht, was aus dieser Begegnung einmal entstehen würde.
Gerda Ressl: Also meine erste Begegnung mit dem Fredi: Er hat damals fürchterlich ausgesehen: Er war sehr groß, hatte lange, zottelige und schmutzige Haare und ich habe ihn aus der Ferne beobachtet, ob er auch ungefährlich ist: Die Mutter hat mir vorher gezeigt, dass das ihr Sohn ist, und ich bin ihm zirka eine Viertelstunde nachgegangen und habe geschaut, was er tut. Und er ist vor mir gegangen und hat jeweils, wenn eine junge Frau vorbeigekommen ist, versucht, mit der Hand vor ihrem Gesicht sie zu erschrecken: Wenn sie reagiert hat, hat er gelacht, und wenn sie nicht reagiert hat, hat er überhaupt nichts gemacht. Daraufhin habe ich ihn angesprochen und da wusste ich schon, dass er ganz gerne etwas isst, und habe ihn gefragt, ob ich ihn auf ein paar Würstl einladen darf.
Und da hat er mich angeschaut, und sein Blick war so typisch, wie es in der Werkstätte von ihm gesagt wird, dieser freundliche, lustige Blick: Er schaut mir also in die Augen und sagt: "Se san a liabe Frau!" Und ab da war einfach eine Beziehung zu ihm da.
Moderation: Auch der pädagogische Leiter der Wohngemeinschaft von der Auftakt GMBH erinnert sich noch genau an Alfred Kous.
Pädagogischer Leiter der WG: Als pädagogischer Leiter komme ich natürlich immer wieder auf Besuch in die Wohngemeinschaft, und mein Eindruck vom Fredi war der, er ist sehr gerne vor seiner Wohnung gestanden, hat geschaut, wer geht da ein, wer geht da aus. Er war sehr charmant und hat immer wieder nette Bemerkungen gemacht. "Es geht ma gut", hat er oft gesagt. Oder wenn man ihn gefragt hat, ob er schon etwas gegessen hat, hat er immer wieder gelächelt und geschmunzelt, ein jeder weiß, dass er sehr gerne gegessen hat und er hat immer gesagt: "Jaja" und er wird sich jetzt wieder was zum Essen besorgen. Also das war so ein Lieblingsthema vom Alfred.
Wo ich auch mit ihm mehr zu tun gehabt habe, war im Sommer, als es darum gegangen ist, dass er einen Arbeitsversuch unternehmen sollte in der Werkstätte am Humboldtplatz. Bis zu diesem Zeitpunkt war er zwar immer wieder auswärts bei einem Therapeuten, aber es war seit längerer Zeit der erste Versuch, wo er arbeiten gehen sollte. Wir waren sehr skeptisch, ob ihm das gefallen wird: Nach den ersten Besuchen in der Werkstatt hat er dann gesagt: "Ja, ich geh jetzt arbeiten! Das ist jetzt viel wichtiger als alles andere, ich geh gerne arbeiten" – und ist dann auch relativ regelmäßig in die Arbeit gegangen, nach der Arbeit dann müde wieder nach Hause gekommen und hat gesagt, "jetzt habe ich etwas gemacht".
Gerhard Wagner: Sie sind ...
Verkäuferin: ... die Frau Nicole ...
Gerhard Wagner: Und Sie arbeiten im Geschäft, vis-à-vis, dort, wo der Alfred Kous gewohnt hat, im Geschäft Hasibutz.
Verkäuferin: Ja, richtig!
Gerhard Wagner: Und er hat sie auf seinen Wegen öfters besucht und ist öfters bei Ihnen vorbei gekommen. Was war denn der Fredi für ein Mensch?
Verkäuferin: Also zu mir war er immer recht liebenswert und sehr rücksichtsvoll, das muss ich auch sagen, er hat sogar, obwohl er sehr behindert war, meinen Namen gewusst, und auch wenn er mich vier oder fünf Wochen nicht gesehen hat, hat er sofort gewusst: "Ah, da kommt die Nicole!" Also er hat mich sofort registriert und er hat mich gekannt. Und wenn wer zu mir zubigegangen (=auf mich zugegangen) ist, und wir sind zur U-Bahn gegangen und er mit mir, ist er immer so weit ein Stück vor mir gegangen, dass mir niemand in dieser Zeit etwas tun hätte können! Ich war von ihm eigentlich in Schutz genommen worden!
Moderation: Was alle, die Alfred Kous gekannt haben, übereinstimmend berichten, ist, dass der Fredi immer sehr gerne gegessen hat. Als Freak-Radio in der Werkstätte gefragt hat, was denn der Fredi besonders gern gehabt habe, war die Antwort:
Koch: Viel! (Lachen) Aber ansonsten hat er eigentlich alles gegessen. Ich könnte mich jetzt nicht erinnern, dass er gesagt hätte, dass er etwas nicht mag. Sonst hat er alles gegessen. Viel hat´s halt sein müssen.
Er ist sporadisch gekommen, das heißt er war nicht regelmäßig da. Wenn er ein bisschen später gekommen ist, hat er meistens eine Pizzaschachtel unter der Hand gehabt, da hat er sich von draußen eine Pizza mitgebracht. (Stimme: Ein Reiseproviant) Ja, weil die Küche ist dann nach ein Uhr geschlossen, und wenn er später gekommen ist, hat er sich dann selbst versorgt, indem er sich dann meistens eine Pizza mitgebracht hat - und von uns hat er dann ein Mineralwasser mitbekommen, das er sehr gerne getrunken hat.
Gerhard Wagner: Ihr Sohn, das habe ich jetzt gerade in der Werkstätte gehört, hat gerne gegessen, und er war ja sehr schwer, er hat ja am Schluss über 170 Kilo gewogen, war das immer schon so, dass er so viel gegessen hat?
Mutter: Nein! Er hat schon gegessen, das stimmt, aber ich glaub die Süßigkeiten haben ihn dick gemacht, aber wenn die dort richtig gekocht hätten ...
Gerhard Wagner: Hat irgendjemand einmal die Idee gehabt, dass er ein bisschen Diät hält oder weniger isst? Hat man sich das irgendwann einmal überlegt, dass das gesünder wäre, wenn man nicht so schwer ist?
Mutter: Das habe ich nie gehört. Auf mich sind sie losgegangen: Ich bin schuld, weil er dick ist. Ich bin zweimal in der Woche hingegangen und habe ihm nur eine Suppe gebracht oder ein Obst. Selten etwas anderes. Zu meinem Geburtstag habe ich ihm ein Schnitzel gebracht. Und dann haben sie schon kontrolliert.
Moderation: In der Frage der Ernährung tauchen gewisse Gegensätze im Konzept der Eltern und Angehörigen und der Wohngemeinschaft auf. Gegensätze, wie sie uns noch öfter begegnen werden. Grundsätzlich geht es um die Frage, ob man Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen bestimmte Dinge verbieten soll, um sie vor Schaden zu bewahren, den sie sich selbst zufügen könnten, oder ob Verantwortliche nicht doch versuchen sollten, Menschen, die etwas langsamer lernen als andere, etwa von der richtigen Ernährung zu überzeugen, ohne sie allzusehr einzuschränken:
Pädagogischer Leiter der WG: Ernährt sich jemand richtig oder so, wie das die Eltern sehen würden, oder ernährt er sich so, wie er das gerne möchte.
Wenn jemand so selbstständig ist wie der Alfred, dann ist klar, er ist unterwegs, dann ist die Leberkässemmel da, oder vielleicht einmal eine Wurstsemmel dort, von ihm gewünscht und gern gegessen, von den Eltern und natürlich auch von uns vom ernährungswissenschaftlichen Standpunkt nicht als besonders gesund geschätzt. Das wissen wir, aber trotzdem wollen wir die Freiheit nicht in der Form einschränken, dass wir sagen, das kann und darf er nicht zu sich nehmen.
Unsere Erfahrung ist, dass Ernährungsbewusstsein nur über die eigene Einstellung geht. Das heißt wir können natürlich darauf schauen, dass Menschen eher Diät essen, eher kalorienarm essen, aber wenn es darum geht, dass sie dann, wenn sie allein unterwegs sind, diese Einstellung auch wirklich praktizieren, dann ist es notwendig, sie davon zu überzeugen. Und wenn es jetzt darum geht, Lust, Appetit und Hunger gegen Ernährungsbewusstsein abzuwägen, dann ist es oft schwer, sich für das ernährungsbewusste Essen zu entscheiden, das wissen wir von uns selbst auch, und umso mehr geht es den von uns Betreuten dann so, sodass vielleicht eine Tafel Schokolade oder eine Leberkässemmel viel verführerischer sind als einen Salat oder einmal Obst zu essen.
Wir versuchen immer mit Gesprächen, das Ernährungsbewusstsein zu fördern, sehen aber auch die Grenzen dieser Möglichkeiten.
Moderation: Auf der Seite der Angehörigen sieht man solche Konzepte mit großer Skepsis und Ohnmacht. Eine Bekannte der Mutter stellt sich vor allem die Frage, warum nicht mit Bewegung oder Diät das Gewicht von über 170 Kilo hätte vermieden werden können.
Bekannte der Mutter: Was mich halt so stört, dass man im Lande Österreich, wenn man eine Behinderung hat, Mensch zweiter Klasse ist: Ich finde, mit den behinderten Menschen kann man bestimmt sehr viele Aktivitäten unternehmen, aber dass man einen Menschen 170 Kilo hinauffuttern lässt, das ist ja unglaubwürdig!
Moderation: Im Oktober 1999, noch unter einer anderen Heimleitung, war die Wohngemeinschaft bereits Gegenstand einer Anfrage im Wiener Gemeinderat an die zuständige Vizebürgermeisterin Grete Laska. Diese vermutete die Schuld für falsche Ernährung damals in erster Linie bei den Familien:
Sprecherin (Zitat Laska):
Leider werden zusätzlich von einzelnen Angehörigen und Bekannten der BewohnerInnen trotz der ständigen Aufklärung Grundsätze gesunder Ernährung permanent missachtet (Schokolade, Cola, Torten etc.). Wenn es dann zu massiven Zahnsanierungen kommt, sind gerade diese Angehörigen und Bekannte erstaunt und aufgebracht.
Moderation: Auf der anderen Seite wissen Eltern und Angehörige davon zu berichten, dass so manche Betreuer in Wien ihren Heimbewohnern Cola extra empfohlen haben.
Wie auch immer – die Nachbarn der Umgebung bieten eine andere Erklärung: Sowohl die Wohngemeinschaft als auch die Mutter hätten sich im Fall von Alfred Kous dafür eingesetzt, dass er nichts Falsches mehr zu essen bekommen solle. Aber er hat offenbar Methoden gehabt, sich die Mahlzeiten selbst zu organisieren:
Verkäuferin: Ich habe ihn nur so gesehen, dass er eigentlich in die Geschäfte gekommen ist, auch zu anderen Leuten wahrscheinlich, und überall Anschluss gesucht hat: "Wie gehts? Und was machst?" Das hat er immer gefragt und nebenbei war gleich die Frage: "Hast was zum Essen, hast was zum Trinken?"
Da hat man ihm natürlich immer etwas gegeben. Bis eines Tages jemand vom Heim gekommen ist und auch die Mutter, und gesagt hat, wir dürfen ihm nichts mehr geben.
Nur das hat er auch in anderen Geschäften gemacht. Er ist dann mit den Krapfen vom Mann-Brot gekommen ... also überall hat er etwas bekommen: Vom Würstelstand hat er die Pommes oder die Würstel bekommen. Dann hat er auch Geld geschnorrt, damit er sich etwas kaufen kann und die Mutter hat erklärt, wir dürfen das nicht mehr machen, das Heim hat das verboten: Wir dürfen ihm nichts mehr zum Essen geben, weil er schon so dick ist! Naja, er ist ja wirklich sehr dick geworden!
Moderation: Die Differenzen zwischen den Angehörigen und der Wohngemeinschaft haben eine lange Vorgeschichte. Diese reichen in Zeiten zurück, da es noch eine andere Heimleitung gegeben hat.
Die Mutter von Alfred berichtet davon, wie ihr Sohn Fredi sie ratlos gemacht hat, weil er sich plötzlich nicht mehr von seiner Mutter kämmen oder pflegen lassen wollte, sie aber den Eindruck hatte, auch sonst würde das niemand für ihn tun oder kontrollieren, ob er sich in notwendigem Ausmaß selbst pflegt.
Mutter: Ich habe ihn beispielsweise nicht frisieren oder einschmieren dürfen oder Gewand richten dürfen. Einmal hat er sich das machen lassen, dann kommt der Betreuer und sagt: " Du bist ein erwachsener Bursch, du kannst das selber machen!" Daraufhin war er grantig, hat mich weggestoßen: "Mama geh weg, ich mach das schon selber!" Er hat dann aber nichts gemacht.
"Mama", das hat er oft gesagt, "Mama, das Leben ist schwer!" Das habe ich hundertmal gehört von ihm (schluchzt).
Gerhard Wagner: Vorher auch schon, oder erst dort?
Mutter: Dort! Früher nie, nur seit er da ist! Wenn ein Betreuer auch mitgeht, sagt er, "Mama, es geht mir gut", aber nachher sagt er: "Mama, das Leben ist schwer!" Das hat er mir oft gesagt! Früher habe ich das nie gehört von ihm! Er war dazwischen!
Moderation: Zwischen allen Fronten: Diese Situation ist für alle Beteiligten nicht einfach, für die Betroffenen ist sie jedoch sicher am schwierigsten, wenn es Differenzen zwischen der Philosophie der Wohngemeinschaft und der Angehörigen gibt.
Im besten Fall wird man sich bemühen, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen.
Doch ist es nicht auch eine Forderung der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, dass die jungen Leute irgendwann einmal ihr Leben selbst in die Hand nehmen, und ist es nicht notwendig, dass sie sich dabei von den Eltern ablösen?
Dabei ist allerdings sicherlich zu bedenken, dass es eine grundsätzlich andere Situation ist, wenn sich ein blinder Mann oder eine bewegungsbehinderte Frau selbstständiger macht um sich vom goldenen Käfig elterlicher Zuwendung zu lösen.
Doch bei Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen ist dies komplizierter: Wo ist der Unterschied zwischen dem Hinführen ins erwachsene Leben der Selbstverantwortung und dem Sich-Selbst-Überlassen der Verwahrlosung? Wie kann der enge Grat zwischen zu großer Einschränkung und zu wenig Zuwendung gegangen werden?
Pädagogischer Leiter der WG: Wir versuchen natürlich, die Menschen, die wir betreuen, ihrem Alter entsprechend zu sehen, das heißt hier: Der Fredi war 33, ein junger erwachsener Mann mit Bedürnissen, mit Wünschen an seine Lebensgestaltung: Das heißt, wir versuchen diesen Wünschen auch nachzukommen, soweit es möglich ist, aber gleichzeitig auch ein Auge darauf zu haben, wie sehr ihnen ihr selbstbestimmtes Leben möglicherweise auch schadet! Und immer dann, wenn wir dasGefühl haben, dass die Lebensqualität, die durch die Selbstbestimmung ja einerseits steigt, andererseits durch die Gefährdung wieder sinkt, wenn das also nicht mehr in der Waage ist, also wenn das nicht mehr ausbalanciert ist, durch Hilfestellung einzugreifen!
Konkret also zum Beispiel die Heimhilfe: Die hat natürlich die Aufgabe, sehr sensibel, aber doch unterstützend einzugreifen. Ein einfaches Beispiel: Seit der Fredi im Herbst in die Werkstatt gegangen ist, war es ihm schwerer möglich, am Nachmittag, wenn er müde nach Hause gekommen ist, die Wäsche alleine zu waschen, was er vorher besser gekonnt hat. Da hat die Heimhilfe den Auftrag gehabt, entweder it ihm gemeinsam, oder manchmal, wenn er zu müde war, für ihn die Wäsche zu waschen.
Das wäre ein gutes Beispiel; beziehungsweise ihn auch beim Kochen zu unterstützen, bei der Frühstückszubereitung, also immer dann, wenn man merkt, es ist notwendig, wenn jemand Hilfe braucht, die Hilfe anzubieten, aber mit der nötigen Sensibilität, ob diese Hilfe auch angenommen werden kann und das in einer Form zu machen, dass sie angenommen werden kann, diese Hilfe ...
Musik (langsames Stück von G.F. Händel)
Moderation: Sie hören Freak-Radio auf MW 1476, diesmal aktuell zum Thema »Damit dein Tod nicht umsonst war.« Eine Reportage über Alfred Kous und seine Umgebung.
Wie wir bereits gehört haben, ist Fredi sehr gerne in die Werkstätte gegangen. Dass er dort viel gegessen hat, hatten vorhin alle bestätigt.
Angestellte der Werkstätte: Und er hat gerne mit Papier gearbeitet! Er hat Schachteln zerissen, weil er da seine Stärke hat beweisen können, er hat Schachteln zusammengeklebt, weil er da einen Erfolg gesehen hat, er war auch so gerne bei den Klienten – und er war drei Tage in der Woche bei uns, und die hat er auch eingehalten.
Also uhrzeitmäßig hat er es nicht immer geschafft, aber die drei Tage ist er gekommen. Ich sage es einmal so: Er hatte eigene Regeln, denn er musste erst später kommen. Wir wollten schauen, dass er zum Frühstück schon da ist, damit er etwas bekommt. Aber die Regeln, die er bekommen hat, also dass er später kommen kann, da hat er sich bemüht, sie einzuhalten. Wenn er sie nicht eingehalten hat, dann wusste er es genau: Er ist dann gekommen und hat mir ganz genau erklärt, warum er erst zwei Stunden später hier antanzt. (schmunzelt) Also da hat er mir genau erzählen können, wo er wie lange war.
Er hat immer großen Wert darauf gelegt, behaupte ich jetzt einmal, was ich ihm aber glaube, ist, dass er sich bemüht hat, hierher zu kommen, nur er ist halt aufgehalten worden!
Pädagogischer Leiter der WG: Die Wohngemeinschaft liegt ja im zehnten Bezirk ganz in der Nähe der Werkstatt und die Favoritenstraße als Fußgängerzone ist eine ganz ungefährliche verkehrsfreie Verbindung und der Alfred ist ja ein Spaziergänger par excellence, das heißt er geht spazieren, plaudert mit einem Kolporteur, dann geht er einmal wieder zu einem Würstelstand und schaut, was sich dort abspielt, und nachdem ihn die Leute in der Umgebung schon sehr gut gekannt haben, haben sie auch gewusst, dass er sehr gerne isst, und haben ihm dann immer wieder etwas geschenkt – und so hat sein Weg von der Wohngemeinschaft in die Werkstätte manchmal etwas länger gedauert, als man normalerweise für den Arbeitsweg braucht – und zurück auch! Das hat ihm auch Spaß gemacht, das war mit ein Teil seiner Gestaltung des Tages.
Moderation: Die Bewohner der Umgebung haben die Ausflüge des Fredi jedoch keinesfalls locker gesehen. Sie berichten von Situationen, die sie ziemlich bedenklich gefunden haben.
Verkäuferin: Er hat zwischendurch immer wieder Anfälle bekommen und dann hat er sich so geschüttelt, dann ist er auf die Straße gefallen, und dann hat er sich auf der Straße gerollt und gewuzelt.
Gerhard Wagner: War das am Gehsteig, oder wo war das?
Verkäuferin: Am Gehsteig, auf der Straße und im Rindenmulch!
Gerhard Wagner: Auf der Straße, wo die Straßenbahn fährt ...
Verkäuferin: Zwischen den Autos, wo die Hunde hinpinkeln!
Gerhard Wagner: Beschreiben Sie uns einmal, wo ist denn die Straße?
Verkäuferin: Auf der Quellenstraße direkt, wo die Straßenbahnen fahren, und zwischen den Parkplätzen hat er sich dann meistens gewuzelt. Oder er hat sich direkt auf der Favoritenstraße gewuzelt, wo alle zuschauen konnten, bei der U-Bahnstation zum Beispiel ...
Moderation: Dass Alfred Kous auch Hepatitis gehabt hat, wundert die Verkäuferin eigentlich nicht. Denn sie hat ihn oft genug im Rindenmulch, in einer Hundezone vor ihrem Geschäft beobachtet.
Verkäuferin: Dann hat er das Ganze in die Hände genommen und hat es sich auch zum Mund zugeführt. Inwieweit er es auch gegessen hat? Soweit ich da war, habe ich ihm dann ein Wasser gegeben, soweit ich es nicht gesehen habe, hab ich ihm nichts geben können!
Moderation: Auch andere Anrainer berichten von Fredis Ausflügen, er war ja in der ganzen Gegend bekannt.
Anrainer: Den habe ich da auf der Gasse kennen gelernt, ihn des öfteren beim Spazierengehen gesehen.
Gerhard Wagner: Wie haben Sie ihn erlebt? Was hat er immer so gemacht?
Anrainer: Der ist eigentlich den ganzen Tag spazieren gegangen, den habe ich sehr häufig auf der Straße gesehen. Dann hat er sich einfach hingekniet auf der Kreuzung, dass die Autos sich einbremsen mussten, meistens im Winter auch sehr wenig bekleidet. Meistens im Jogginganzug, ich weiß nicht, ob es nicht überhaupt ein Pyjama war, aber keine dicke Jacke. Manchmal hat er sich sogar vor den Leuten ausgezogen!
Meistens war er ohne Begleiter und Betreuer unterwegs gewesen!
Ehrlich gesagt, was mich gewundert hat, dass eigentlich sämtliche andere aus diesem Heim auch mit Betreuer unterwegs waren, aber er war eigentlich immer alleine, er ist immer allein unterwegs gewesen, das hat mich schon gewundert, ja!
Moderation: Fredi ist aber nicht der Einzige, den die Anrainer bei gefährlichen Verkehrsmanövern beobachtet haben. Die Verkäuferin vom Geschäft vis-à-vis berichtet auch von einer anderen WG-Bewohnerin.
Verkäuferin: Zum Beispiel die Frau Berta auch vom Heim, also die ist ganz extrem, die beobachten wir nur, denn zu der haben wir keinen Bezug, sie kommt ja nicht zu uns hinein. Wir haben zwar keinen Bezug zu ihr, aber wir sehen sie: Und wir sehen diese etwas stärkere, vollbusige blonde Frau, die hat immer Sackerln in der Hand. Und sie geht so gegen 17 Uhr Stoßzeit über die Quellenstraße und dann reißt es sie prinzipiell auf der Straße, dann bekommt sie so einen Rüttelanfall und dann bleibt sie mindestens einige Minuten stehen. Für mich sind es Minuten, vielleicht ist es eh nur eine Minute, aber für mich dauert das sehr lange, wenn sie da auf der Straße steht.
Gerhard Wagner: Na hält sie da nicht auch die Straßenbahn auf?
Verkäuferin: Das schon, die bleiben dann stehen und bimmeln und hupen, und alle hupen. Aber irgendwann einmal im Winter ... ich wart schon drauf, dass sie sie zusammenführen!
Moderation: Die Leute aus der Umgebung kennen viele Geschichten vom Fredi: Etwa die, dass er eines Tages einem Maronibrater, der ihn immer wieder mit abfälligen Bemerkungen bedacht hat, ihn als »deppat« bezeichnet hat, in seine Maroni gepinkelt hat. Überhaupt waren die Verdauungsvorgänge bei ihm offenbar Zeichen für Zu- oder für Abneigung:
Verkäuferin: Das Heim hat zwar verboten, dass man ihm Essen gibt, aber man musste ihm ja etwas zum Essen geben, denn wenn man ihm nichts gegeben hätte, dann hätter er einen angepischt wie den Maronibrater oder dem irgendetwas gemacht, allerdings nicht tätlich.
Und das hat sich herumgesprochen in der Gasse, somit hat sich keiner mehr irgendetwas zu Schulden kommen lassen und damit er geht, hat man ihm halt ein Sackerl Semmeln gegeben oder hat man ihm halt die Krapferln gegeben oder Würstel oder irgendwelche Resterln, die halt andere gehabt haben, die hat man ihm halt einfach gegeben! Damit man nur keine Schwierigkeiten hat und dass er sich gleich wieder putzt! (=dass er gleich wieder verschwindet) Je schneller, desto besser, denn dreckig war er ja!
Gerhard Wagner: Er hat dann am Schluss über 170 Kilo gehabt, hätte man das vermeiden können?
Verkäuferin: Ja locker, wenn da irgend jemand mitgegangen wäre, man hätte ja nur irgendeinen Betreuer mitschicken müssen, der ihn in die Arbeit gebracht hätte, und jemanden, der ihn von der Arbeit wieder geholt und heimgebracht hätte, und daheim hätte man ihn halt nur mit Betreuung spazieren gehen lassen dürfen. Dann hätte man es vermeiden können, dass er 170 Kilo hat.
Aber er hat sich ja auf der Straße ernährt, er hat ja einem jeden leidgetan, ein jeder hat ihm etwas gegeben!
Moderation: Sowohl die Mutter als auch den Leuten in der Umgebung ist oft aufgefallen, dass er immer mit ähnlich schmutzigem Gewand umhergegangen ist. Gerade aber beim Gewand wollte man Fredi freie Wahl lassen, sagt die Wohngemeinschaft, weil es nicht so wichtig sei, ob die Umgebung das schön findet, solange Fredi das wollte.
Gegen Ende des letzten Jahres, erzählt die Verkäuferin von nebenan, habe Sie Fredi dann aber nicht mehr ins Geschäft gelassen.
Verkäuferin: Wie er dann sehr extrem verwahrlost war, haben wir dann gesagt: "Geh Fredi, bitte geh wieder, du bist dreckig!" "Ja, ich weiß eh". Sag ich: "Fredi, du musst was tun dagegen! " Ich wasch´s eh wieder – einmal. Also er musste sich das glaube ich, selber waschen, das wissen wir nicht.
Gerhard Wagner: Wann war das?
Verkäuferin: Das ist sogar vor Weihnachten gewesen. Kurz vor Weihnachten war diese Aktion zum Beispiel.
Gerhard Wagner: 2003?
Verkäuferin: Ja, kurz vor Weihnachten: Wir durften ihm ja nichts mehr zum Essen geben, schon lange Zeit vorher, und dann ist er hereingekommen und war auch sehr sehr schmutzig. Aber ich muss sagen: Er hatte keine Jacke an. Er hatte einen dünnen Sweater und eine Latzhose – und es war saukalt draußen!
Gerhard Wagner: Und er hat sich dann ja auch verkühlt und hat einen grippalen Infekt bekommen.
Verkäuferin: Ja, das wissen wir zwar nicht, indem wir es nicht gesehen haben, weil er ist dann scheinbar nicht zu uns herübergekommen, aber wir wissen, dass er kurz darauf gestorben ist, und uns hat es, wenn ich ehrlich bin, eigentlich nicht mehr gewundert, wir haben es als Erleichterung für ihn empfunden!
Moderation: Gerda Ressl hat Alfred Kous einen Tag vor seinem Tod noch besucht. Dort hat sie ihn hochfiebernd in einem sehr heißen und feuchten Zimmer gefunden.
Gerda Ressl: Es war überraschend, dass ich zu ihm kommen musste. Ich wollte seine Weihnachtsgeschenke zu ihm in die Werkstätte bringen, weil ich wusste, dass er dort sehr beliebt war, und weil dort einfach auch ein menschlicheres Klima herrscht.
In der Werkstätte musste ich dann erfahren, dass er krank ist. Daraufhin habe ich mich entschlossen, auch ohne lange Anmeldung einfach hinzugehen, um ihm sein Geschenk zu bringen.
Man wollte mich zuerst nicht hinein lassen, man hat gesagt, er schläft, und ich habe gesagt, ich will ihn trotzdem sehen! Die Heimhilfe hat die Türe leicht aufemacht und er hat sofort den Kopf gehoben. Und wie er mich gesehen hat, hat er sofort gerufen "Frau Ressl, Frau Ressl!" Und ich bin so froh, dass ich diesen Tag vor seinem Tod noch bei ihm war.
Moderation: Alfred Kous war an sich , wie man so sagt, ein kraftvoller Lackl, wenngleich, so schränkt der pädagogische Leiter ein, er durch die Medikamente und durch sein Übergewicht nicht ganz so gesund war. Aber mit seinem Tod habe niemand gerechnet:
Pädagogischer Leiter der WG: Das heißt, er ist halt krank geworden, hat einen Schnupfen bekommen und Fieber. Natürlich, wie man es zuerst einmal macht, sagt man, man legt sich nieder, dann ruft man einen Arzt, so wie wir das gemacht haben. Der Arzt hat einen Hausbesuch gemacht, hat ihn noch untersucht, hat selbst gemeint, es liege auf keinen Fall eine Lungenentzündung vor, und es wäre für ihn viel besser, zuhause zu bleiben in seinem Bett, Medikamente zu nehmen, ein Antibiotikum, sich gut auszuschlafen und so die Krankheit auszukurieren.
Und selbst für den Hausarzt war es sehr überraschend, als er vom Tod des Alfred erfahren hat. Der hat überhaupt nicht damit gerechnet und war sehr betroffen, dass das passiert ist. Und auch die Rettung hat sofort gesagt, es wird wahrscheinlich Herzversagen gewesen zu sein, und das scheint ja jetzt auch im Obduktionsbericht so herausgekommen zu sein.
Moderation: Für die Mutter war der Tod eine schreckliche Erfahrung. Denn sie wollte ihrem Sohn in der Früh eigentlich die Weihnachtsgeschenke bringen, aber dann wurde sie beiseite genommen und man hat ihr, die sie schon sehr aufgeregt war, den Tod ihres Sohnes mitteilen müssen. Als wir von Freak-Radio sie gefragt haben, woran sie sich noch gerne erinnert, schildert sie uns den Abschied von ihrem Sohn am Tag zuvor:
Mutter: Er hat gesagt. Mama, mir tut der Kopf so weh, Kopfweh! Er hat ganz rote Augen gehabt. Dann hat er gefragt: "Hast du mich lieb?" "Natürlich hab ich dich lieb!" "Ich dich auch!" Und das war sein letztes Wort! (schluchzt)
Musik (langsames Stück von G.F. Händel) darüber:
Moderation: Damit sind wir am Ende dieser Sendung.
Nächste Woche hören Sie eine Sendung aus dem ORF-KulturCafé von Walter Lindner zum Thema "Barrierefreier Arztbesuch", wie immer am Sonntag und Dienstag um 20.30 Uhr.
Namens des gesamten Freak-Radio Teams verabschiedet sich für diesmal Gerhard Wagner.
Musik
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