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Folge 44: Der Narrenturm: ein historischer Streifzug durch den Gugelhupf
Im Ö1-Podcast "Inklusion gehört gelebt" machen wir einen historischen Streifzug durch den Wiener Narrenturm, dem ersten Krankenhaus für psychisch erkrankte Menschen. Kustos Eduard Winter schildert sehr humorvoll die abwechslungsreiche Geschichte des Gebäudes, das in Wien auch als Gugelhupf bekannt war. Es geht unter anderem darum, wo Initiator Kaiser Joseph II viele Abende verbracht haben soll und um ein Graffiti. Viel Spaß beim Hören!
Christoph Dirnbacher: Herzlich Willkommen bei FreakCasters, am Mikrofon begrüßt Sie Christoph Dirnbacher. Sandra und ich nehmen heute an einem Seziertisch aus Marmor Platz. Ja, Sie haben richtig gehört: ein Seziertisch aus Marmor, und dieser Tisch befindet sich in einem Raum, der entfernt, sagen wir, an ein Torteneck erinnert. Für die heutige Episode unseres Podcasts begeben wir uns nämlich in ein rundes Gebäude, das in 139 Zimmer, auch Zellen genannt, unterteilt ist. Na, haben Sie schon eine Idee, worum es gehen könnte? Der Rundbau, um den es sich heute handelt, steht, so viel sei verraten, in Wien und stammt aus dem 18. Jahrhundert. Auf manche Menschen übt er eine ganz besondere Faszination aus. So auch auf unseren heutigen Gast.
Eduard Winter: …also das war spannend, weil ja die Ausstellungsobjekte nicht nur zum Anschauen waren, sondern man was erklärt bekommen hat dazu. Das war daher nicht so wie in anderen Museen, wo man halt nur durchgegangen ist und schaut, sondern, da waren tatsächlich fachkundige Mitarbeiter, die sich gekümmert haben um einen. Und das hat mich irgendwie fasziniert, dass es sowas gibt, und dass es auch erklärt wird, und dass man sich das anschauen kann.
Sandra Knopp: Es hat Dich nicht gegruselt?
Eduard Winter: Nein, überhaupt nicht. Nein. Ich hatte da nie irgendwelche Probleme damit. Das kann auch deshalb sein, weil ich in der Nähe von einem Friedhof aufgewachsen bin, und als Kind auf dem Friedhof gespielt habe, hin und wieder. Deswegen hatte ich da, glaube ich, nie so wirklich diese Angst, oder Ekel vor dem Tod. Es war halt immer präsent, es hat mich nie wirklich gestört, weil, das gehört halt dazu.
[Atmo_kommen Sie rein] An einem Septembervormittag wird uns eine schwere Eisentür am Areal des Wiener Uni-Campus geöffnet.
Christoph Dirnbacher: Ah, hallo, grüß‘ Sie, Christoph Dirnbacher mein Name, wir haben ein Termin beim Herrn Winter für den Ö1 Inklusionspodcast.
Empfangsdame: Ah, bitte, kommen Sie rein!
Sandra Knopp: Wir betreten einen kreisrunden Gang im Erdgeschoss – hier sind 19 modern ausgestattete Schauräume eingerichtet. Eduard Winter, den Sie eingangs gehört haben, hat einen ganz besonderen Job: Der studierte Physiker ist verantwortlich dafür, dass Krankheitsbilder wissenschaftlich korrekt gezeigt beziehungsweise präsentiert werden. Das geschieht zum Teil mithilfe von menschlichen Feuchtpräparaten oder sogenannten Moulagen, also Nachbildungen von Körperteilen aus Wachs. Winter ist als Kustos verantwortlich für die pathologisch-anatomische Schausammlung im Wiener Narrenturm.
Winter_Krankheitsbilder OT
Eduard Winter: Im Moment befinden wir uns gerade im Raum über Erkrankungen des Bewegungsapparats, sprich Knochen, Muskeln und Sehnen und so weiter, wobei wir uns hauptsächlich auf Knochen beschränken. Wir haben das so lehrbuchartig, mehr oder weniger, aufgebaut. Sprich, es gibt einen Bereich für die allgemeine Pathologie: was ist eine Entzündung, was ist ein Tumor im Allgemeinen, und dann aufgeteilt auf die Organe oder Organbereiche, Organgruppen…eben Herzerkrankungen, Lungenerkrankungen und in dem Zimmer Entzündungen des Herzens, Tumorerkrankungen des Herzens oder eben des Bewegungsapparats, wo wir jetzt sind.
Sandra Knopp: Wir dürfen heute in einen Trakt des Gebäudes, der Besucher:innen üblicherweise nicht offen steht. Mit einem gläsernen Aufzug geht es nach oben. An der Rückseite des Fahrstuhls ist ein riesiges Bild eines menschlichen Körpers angebracht, man fährt also von den Füßen im Erdgeschoss bis zum Kopf, also dem Obergeschoss. Neben dem Besprechungsraum, in dem der Seziertisch und alte Krankenhaussessel aus Metall stehen, stehen Vitrinen mit Skeletten. Bei einem von ihnen hat sich der Präparator laut Winter vor 150 Jahren wohl einen makabren Scherz erlaubt: am Schädel des Lehrskeletts sind Haare des Toten angebracht. Eduard Winter arbeitet seit 2005 im Narrenturm – einem Gebäude ohne Heizung. Warum das so ist, dazu gleich mehr. Von Beginn des Gesprächs ist jedenfalls spürbar, wie sehr Winter dieses Stück Medizingeschichte begeistert.
Eduard Winter: (lacht) Also ich empfinde es so: wenn man mich als Freak bezeichnet, dann empfinde ich das als Kompliment. Ich finde, man soll das machen, was einem Spaß macht, was einen interessiert. Und wenn man sich dann dafür begeistern kann und eine gewisse Leidenschaft und auch eine gewisse Besessenheit entwickelt, ist das nicht verkehrt. Man muss nur aufpassen, dass es nicht zu viel wird, aber ich finde, Freak passt ganz gut, gefällt mir (lacht).
Christoph Dirnbacher: Wie merkt man, dass es zu viel wird?
Eduard Winter: Wenn man dann seine Urlaube so plant, dass man nur Städte anfliegt oder anfährt, wo es ähnliche Museen gibt (lacht).
Sandra Knopp: Der Wiener hat sich intensiv mit der wechselvollen Geschichte des Narrenturms befasst. Vor allem die Anfangsjahre dieses ambitionierten Projekts könnte man mit den Worten „Pleiten, Pech & Pannen“ zusammenfassen. Dafür reisen wir ins 18. Jahrhundert. Im Jahre 1777 besuchte Kaiser Joseph II seine Schwester Marie Antoinette in Frankreich. Bei dieser Gelegenheit schaute er sich auch das Pariser Zentralspital Hôtel Dieu an. Die dortigen sanitären Zustände entsetzen ihn: Für 5000 Kranke gab es viel zu wenige Betten. Es war üblich, dass sich drei bis vier Patienten eine größere Liegestatt teilten, heißt es auch auf habsburger.net. Das wollte er unbedingt anders haben. Auch wenn sich zur damaligen Zeit viele Ärzte für kleinere Spitäler einsetzten, gefiel dem Kaiser die Idee eines Großkrankenhauses für Wien. Was die Umsetzung anlangt, ging er neue Wege, so etwa bei der Belüftung der Räume.
Eduard Winter: Das ist ganz spannend, das sieht man jetzt beim Alten AKH sehr schön, dass im Erdgeschoss die Fenster wesentlich höher liegen. Die sind nicht auf Gassen-, also auf Straßenniveau, sondern erhöht. Früher gab es ja keine asphaltierten Straßen, sondern nur Erde, Sand, und es war immer sehr staubig. Und das ist es eben: Fenster aufmachen geht nicht, denn dann kommt der ganze Dreck von der Straße rein. Und was er eben anders gemacht hat, hier, ist, dass die Fenster im Erdgeschoss - auf der Alserstraße vor allem sieht man das sehr schön-, dass die eben nicht auf Fenster-, also auf normalem Straßenniveau sind, sondern erhöht, sodass man die Fenster lüften kann.
Sandra Knopp: Auf dem Areal des ehemaligen Großarmen- und Invalidenhauses entstand eines der modernsten Spitäler Europas. Heute ist diese Örtlichkeit besser bekannt unter dem Namen „Altes AKH“ bzw. Uni-Campus. Das einzige Gebäude, das im Zuge des Großprojekts komplett neu erbaut wurde, war der Narrenturm, das erste „Irrenhaus“ Wiens. Bereits um den Einzug der ersten Bewohner ranken sich einige Mythen: So sollen in einer Aprilnacht des Jahres 1784 ein seltsamer Umzug stattgefunden haben. Einige schwerer erkrankte und tobende Patienten habe man in Ledersäcke eingenäht. Unbestritten ist, dass Kaiser Joseph II sehr großes Interesse am Narrenturm hatte.
Eduard Winter: Das ist teilweise gar nicht so einfach, das zu trennen, weil es relativ wenig Material gibt aus der Zeit, relativ wenig Aufzeichnungen. Es gibt ein Handbillet vom Kaiser Joseph, wo er die Belegung des Narrenturms genau festlegt. Das gibt es, das ist auch noch vorhanden, das ist auch überliefert, das kann man sich sogar im Original noch anschauen. Und da steht genau drin, welche Patienten aus welchem Spital, also aus dem St. Marx oder aus dem Spanischen Spital oder wo auch immer, hierher verlegt wurden und wie viele Patienten in welche Abteilung kommen und so weiter. Das hat er ganz genau gemacht. Und er hat auch ein eigenes Datum für die Eröffnung festgelegt. Denn das allgemeine Krankenhaus ist ja, wenn ich mich richtig erinnere, im August 1784 eröffnet worden, und der Narrenturm ein paar Monate vorher im April, obwohl sie eigentlich zusammengehören, organisatorisch. Ich habe das ehrlich gesagt noch nie nachgerechnet, ob es tatsächlich eine Neumondnacht war. Angeblich sagt man, das hat mit den Mondphasen zu tun gehabt und dass er sich da extra diesen Tag ausgesucht hat, weil das eine bestimmte Mondphase war. Ob das jetzt wirklich stimmt? Keine Ahnung, das ist teilweise nicht mehr nachvollziehbar. Und das mit den Ledersäcken habe ich gelesen, aber ich habe auch keinen Beweis dafür gefunden.
Sandra Knopp: Das Projekt Narrenturm lag dem Kaiser so am Herzen, dass er es aus eigenen Mitteln finanzierte.
Eduard Winter: Das Allgemeine Krankenhaus wurde aus der Staatskasse finanziert und den Turm hat er sich aus seiner Privatschatulle bezahlt.
Sandra Knopp: Und es gab Gerüchte, ER hätte das Gebäude geplant?
Eduard Winter: Ja, diese Gerüchte kenne ich und er dürfte zumindest daran teilgehabt haben. Er wird es wahrscheinlich nicht alleine geplant haben, aber er war ziemlich involviert in das Ganze, gemeinsam mit seinem Leibarzt, dem Doktor Quarin, der danach ja auch Direktor vom Allgemeinen Krankenhaus geworden ist. Dann waren da wahrscheinlich noch der Isidor Canevale und der Josef Gerl, Baumeister und Architekten, die das mit ihm gemeinsam geplant haben dürften, weil er sich dafür wirklich sehr interessiert hat. Und er hatte ja auch Ausbildungen dazu. Die Habsburger haben ja alle verschiedenste Berufe erlernt und verschiedenste Handwerke. Er war, glaube ich, Tischler, er hat, glaube ich, sogar eine Tischlerlehre gemacht und ähnliche Dinge. Und er konnte auch Pläne zeichnen. Und dementsprechend halte ich die Theorie für sehr wahrscheinlich, dass er auf jeden Fall mitgeplant haben dürfte.
Sandra Knopp: Aber das heißt, das war ihm ein großes Anliegen?
Eduard Winter: Ja.
Sandra Knopp: Weiß man, warum?
Eduard Winter: Nein, es gibt nur verschiedenste Theorien, die teilweise ins Reich der Legenden fallen. Es gibt zum Beispiel das Gerücht, dass er den Freimaurern sehr nahe stand. Das ist vielleicht auch gar kein Gerücht, das dürfte sogar stimmen, weil sein Vater, der Franz Stephan von Lothringen, der war ja Freimaurer. Und da gibt es eben die Theorie, dass das sein Meisterstück gewesen sein könnte. Es kann auch sein, dass er sich einfach nur persönlich dafür interessiert hat und ihm das Spaß gemacht hat. Das ist natürlich auch nicht auszuschließen (lacht). Oder, dass er sich einfach ein bisserl selbst verwirklichen wollte. Da gibt es also Möglichkeiten ohne Ende.
Christoph Dirnbacher: Aber ganz sicher nicht ins Reich der Mythen und Legenden gehört der achteckige Bau, der noch bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein existiert hat, das sogenannte Oktogon, das ja, sagen manche, als Treffpunkt für freimaurerische Aktivitäten gedient haben könnte.
Eduard Winter: Das stimmt, dieses Oktogon hat existiert. Es gibt sogar noch Fotoaufnahmen davon. Das ist nur irgendwann, wahrscheinlich, weil es baufällig war, abgerissen worden. Es gibt leider keine Dokumentation, wann genau es abgerissen wurde. Es gibt nur noch historische Fotoaufnahmen, also aus dem 20. Jahrhundert. Am Anfang des 20. Jahrhundert existierte dieses Oktogon noch. Und es gibt gesicherte Berichte, dass der Joseph II. Besuche hierher mitgenommen hat, möglicherweise zum Sterne schauen oder zu sonstigen Geheimtreffen, das weiß man nicht. Aber es gibt diese Berichte, dass der Kaiser hier Besuche mitgenommen hat. Deswegen gab es hier früher auch so eine Inschrift, also ein Graffiti, kann man fast schon sagen, auf der Narrenturmmauer, die auf Josef II. anspielt, „Der Erste unter Gleichen“, im Narrenturm unter den Geisteskranken. (lacht)
Sandra Knopp: Aufgrund seiner runden Form nannten die Wiener das Gebäude auch Gugelhupf. In Wien gäbe es nicht viele runde Gebäude, sagt Kustos Eduard Winter. Warum Kaiser Joseph II gerade diese runde Form gewählt habe, sei nicht geklärt. Dafür gibt es manche wohl nicht ganz ernst gemeinte Erklärung.
Eduard Winter: Es gibt eine lustige Anekdote, dass Joseph II. den Turm rund gebaut hat, weil er keine Ecken wollte, denn: in den Ecken kehrt niemand auf. Und dann sammelt sich immer sehr viel Dreck in den Ecken und das wollte er nicht. Aber das ist, glaube ich, eher eine lustige Anekdote (lacht), die aber gut zu Joseph II. passen würde. Die anderen Theorien sind, dass er möglichst platzsparend bauen wollte, also den Platz gut ausnutzen wollte und sich deswegen für die runde Form entschieden hat. Es kann aber auch sein, dass er die runde Form deswegen gewählt hat, weil Kreise beruhigend auf Menschen wirken. Das findet man auch heute im modernen Feng-Shui zum Beispiel. Da steht der Kreis ja auch für die Ruhe. Und das war damals so ein ganzheitliches medizinisches System, wo er auch alle möglichen anderen Sachen berücksichtigt hat, wo auch die Lebensweise berücksichtigt und auch mit anderen Dingen gearbeitet wurde, um Patienten zu behandeln. Und es kann sein, dass er das deswegen rund gebaut hat, weil er gedacht hat, dass eine runde Form gut für Geisteskranke ist, um sie zu beruhigen.
Eine andere Theorie wiederum ist, dass er hier an die Mondphasen anknüpfen wollte. Im Deutschen gab es früher den Begriff „Mondsüchtige“ für Geisteskranke. Der wird heute nicht mehr wirklich verwendet, „mondsüchtig“ ist also ein bisschen aus dem Sprachgebrauch, glaube ich, verschwunden. Im englischen „lunatic“ ist ja noch Luna, der Mond, drinnen. Den Zusammenhang zwischen Geisteskrankheit und Mond gab es immer schon. In der damaligen Theorie war das einfach verankert. Deswegen haben wir auch 28 Zimmer pro Stockwerk. Das ist eben mehr oder weniger ein Mondkalender. Einen Kreis in 28 Teile teilen macht man nicht einfach aus Spaß an der Freude, da hat man irgendeinen Sinn dahinter angenommen. Anbieten würden sich ja eher eben 16, 32, sogar 2, 4, 8, das kann man leicht teilen. Aber in 28 Teile teilen ist nicht so leicht, da muss man schon ein bisschen was konstruieren (lacht). Daher kann es sein, dass er rund gebaut hat, um eben diesen Mondzyklus darzustellen, und somit den Patienten zu helfen.
Sandra Knopp: Manche meinen, der Narrenturm erinnere an ein Panoptikum, einen Gefängnisbau, bei dem man Gefangene von einem zentralen Punkt aus überwachen kann. Ist an dieser Theorie etwas dran?
Eduard Winter: Nein (lacht), das stimmt definitiv nicht. Es erinnert daran, auch mit diesem Oktogon auf dem Dach und der runden Form. Aber in der Praxis stimmt es halt überhaupt nicht, weil die Zellen der Patienten nach außen gerichtet sind, die sind an der Außenfassade, sprich, die haben Fenster ins Grüne gehabt, was sehr schön ist. Die Pfleger und Wärter allerdings waren eben in der Mitte vom Gebäude, nur war halt noch ein Gang und zwei Türen dazwischen, bevor man zu den Patienten schauen konnte. Von der Wärterwohnung sieht man alsdo eine verschlossene Tür, das war’s (lacht). Jeder kann es gern ausprobieren und sich hierhin stellen, da sieht man nichts. Also zum Überwachen ist das völlig unpraktisch. Und das war einer der Gründe, warum man den Narrenturm später schließen wollte, weil er eben sehr unpraktisch erbaut wurde und die Patienten eben nicht einfach zu überwachen waren.
Sandra Knopp: Der Narrenturm war deshalb so revolutionär, weil er ein eigenes Spital für psychisch erkrankte Menschen war. Zuvor wurden psychisch Kranke meist von ihren Familien gepflegt. Dies geschah oftmals im Verborgenen, weil man sich der Kranken schämte. Einige landeten auch im Armenhaus oder im Gefängnis. Der Narrenturm hat 5 Stockwerke mit je 28 Zellen. Jedes Stockwerk war eine eigene Abteilung.
Eduard Winter: Der erste Stock war zum Beispiel die Abteilung für die - damals hat man gesagt - „Militärirren“. Heute würde man Kriegstraumata sagen dazu. Die waren alle in eigenen Abteilungen untergebracht. Im Erdgeschoss waren die ruhigen Patienten, das waren Melancholiker, zum Beispiel, die man dort untergebracht hat. Und dann gab es die Ekel erregenden, oder auch Unreine oder Wütende und Tobende, und da waren zum Beispiel auch Alkoholiker dabei - Alkoholismus war damals schon als psychische Krankheit mehr oder weniger eingestuft.
Und diese wurden hier behandelt, „Entziehungskur“ könnte man heute sagen dazu, sowie halt auch andere psychische Erkrankungen. Welche Diagnosen das genau waren, das lässt sich heute nicht mehr feststellen, aber die, welche eine Gefährdung für die Öffentlichkeit dargestellt haben, sprich, auf der Straße irgendwelche Sachen zerstört haben, kamen hier her. Diese damaligen Bezeichnungen muss man immer im historischen Kontext sehen, und dass solche Bezeichnungen damals einfach die Norm waren. Das war jetzt nicht abwertend gemeint, das ist halt einfach nur eine andere Bezeichnung gewesen. So, wie der „Narr“ ursprünglich ja auch nichts Negatives war - wenn man an das Wort „Narrenfreiheit“ denkt, was eigentlich was Positives war (lacht). Der Narr, der Hofnarr, der war der, der als einziger am Königshof dem König widersprechen durfte, also eigentlich eine positive Rolle hatte, ursprünglich. Und das sind dann so Begrifflichkeiten, die sich im Wandel der Zeit dann ändern, eben auch die Bedeutung davon. Und wenn man das jetzt eben aus heutiger Sicht betrachtet, Begriffe wie „ekelerregend“ oder „wütend“ und „tobend“, klingt das etwas eigenartig, weil man damit eher was Irrationales, irgendwas Schlimmes, was Negatives verbindet. Aber das waren so typische Diagnosen, damals, sowie allgemeiner „Irrsinn“, wenn man nicht wusste, woran der konkret leidet.
Sandra Knopp: Dank der österreichischen Bürokratie ist bis heute vieles über ehemalige Bewohner und Bewohnerinnen bekannt. Einige Informationen lassen sich in den Obduktionsberichten nachlesen.
Eduard Winter: Dadurch, dass die Obduktionsbefunde auch seit, glaube ich, 1817 durchgehend aufgezeichnet wurden und natürlich auch in der Irrenanstalt, im Narrenturm, viele verstorben sind, und dadurch, dass viele auch mit Syphilis im Endstadium, mit Neuro-Syphilis, eingeliefert wurden als Geisteskranke, und die sind halt irgendwann verstorben. Und die sind alle obduziert worden. Dadurch haben wir diese Daten und da steht immer dabei, aus welcher Abteilung die kamen aus der Irrenanstalt. An Hand dieser Obduktionsbefunde kann man dann auf die Krankengeschichten schließen, weil da auch immer sehr viele biografische Daten dabeistehen, mit Beruf, Alter, Herkunft, Name und so weiter. Da kann man also schon einiges ablesen. Nicht aus den Krankenakten, denn die sind zum Teil verschwunden, aber über Sekundärquellen oder über Umwege kommt man zu den Krankengeschichten.
Sandra Knopp: Eine Legende rund um den Wiener Narrenturm betrifft einen Ausbruchsversuch. Ein Insasse soll beim Versuch zu türmen in einem Kamin stecken geblieben sein.
Eduard Winter: Ich kenne die Geschichte, aber ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass es stimmt, weil die Kamine einfach sehr eng sind. Ich habe die gesehen. Gerade durch die Restaurierung jetzt ist ja viel aufgemacht worden, also Wände geöffnet und Sachen rückgebaut worden. Und ich glaube, diese Kaminöfen hatten einen Durchmesser von 30 Zentimetern…wie man also da drin steckenbleiben kann als erwachsener Mensch, das weiß ich nicht (lacht).
Sandra Knopp: Je nach den finanziellen Möglichkeiten des Kranken sah die Unterbringung aus, sagt Eduard Winter.
Eduard Winter: So wie im Allgemeinen Krankenhaus wurden die Patienten in vier Klassen eingeteilt. Die erste Klasse, die kostete, glaube ich, einen Gulden pro Tag, die Behandlung. Da muss man vielleicht noch ein bisschen weiter ausholen. Die K.u.K-Irrenastalt war ja nicht nur der Narrenturm. Es gab ja noch im Lazarett einzelne Zimmer, und es gab auch im Allgemeinen Krankenhaus einzelne Zimmer, und zwar vor allem für die Bessergestellten, die teureren Zimmer. Die gab es im Narrenturm auch, aber es gab auch welche im Allgemeinen Krankenhaus, die sogenannten „Ein-Gulden-Zimmer“, oder „Guldenstöckl“, wie es auch geheißen hat. Und da waren eigentlich auch alle quer durch die Gesellschaftsschichten vorhanden. Allzu viele Fallbeispiele oder Krankenakten gibt es nicht mehr, aber bei denen, die man gefunden hat, da fanden sich auch Adelige dabei. Also da gab es, glaube ich, einen ungarischen Adeligen, der eben wegen Alkoholismus hier eingeliefert wurde…mehrfach (lacht).
Sandra Knopp: Eduard Winter gibt uns einen Einblick in den Alltag eines Insassen der damaligen Zeit.
Eduard Winter: Vorgesehen war es für ein bis zwei Patienten. Es gibt aber Berichte, dass er teilweise überbelegt war, dass manchmal auch drei Patienten in einer Zelle waren.
Sandra Knopp: Und wie hat so eine Zelle ausgesehen?
Eduard Winter: Wie so ein Torteneck könnte man sich das vorstellen, nur ohne Spitze, weil da eben dann der Rundgang ist und man auch dazukommen muss. Circa elf bis zwölf Quadratmeter für ein bis zwei Patienten, das ist also gar nicht so wenig. Wenn man vergleicht, wie viel Platz man heute im modernen Spital für ein Krankenbett hat, sind die elf Quadratmeter nicht so wenig. Und es gab Holzpritschen oder Betten, für die Unreinen gab es Strohsäcke, oder die Wütenden, Tobenden, damit die sich nicht verletzen können am Holzrahmen. Dann gab es, je nach Bezahlklasse, auch noch ein Nachtkästchen oder auch nicht. Und es gab einen Abort in jeder Zelle.
Sandra Knopp: Und stimmt es, dass die Militärirren in der Früh einen Morgenappell hatten, also, dass sie quasi ein bisschen an ihr militärisches Leben noch zurückerinnert wurden?
Eduard Winter: Ja, das habe ich auch gelesen. Da gibt es einige Quellen, die das erwähnen. Das war auch Teil der Therapie, dass die halt eben das, was sie kennen, weiterführen dürfen, um vielleicht wieder irgendwie zu heilen. Und es wurden auch Kriegsinvalide zur Aufsicht verwendet, also als Torwächter zum Beispiel.
Sandra Knopp: Weiß man ein bisschen was über den Alltag der Insassen oder der Bewohner, besser gesagt?
Eduard Winter: Ja, also man findet tatsächlich auch in alten Reiseberichten und in Unterlagen und teilweise auch veröffentlicht die Anstaltsordnung vom Allgemeinen Krankenhaus und auch vom Narrenturm. Da haben wir auch die Original-Speisepläne gefunden, was die zum Essen bekommen haben. Und das war ganz streng geregelt, mit in der Früh, glaube ich, um acht Uhr aufstehen, und dann gibt es Frühstück. Und dann Beschäftigungstherapie, zum Teil, manche Patienten wurden auch zu kleineren Arbeiten herangezogen. Es gab ja diese vier Klassen, die ich vorher schon erwähnt habe. Und die vierte Klasse, die wurde gratis behandelt. Die wurde dafür aber auch als billige Arbeitskräfte verwendet, wenn sie dazu körperlich in der Lage waren. Die mussten dann Wasser holen und solche Dinge, zum Beispiel, oder mithelfen in der Küche und ähnliche Sachen. Und das war ganz genau und streng reglementiert, wie dieser Tagesablauf auszusehen hat. Ich glaube, teilweise gab es mal Zeiten, wo man Zigaretten rauchen konnte oder Pfeife rauchen. Es gab angeblich ein eigenes Raucherzimmer (lacht). Weil das ansonsten streng verboten war, aufgrund der Brandgefahr. Aber damit die Raucher doch zum Rauchen kommen, gab es, glaube ich, eine Rauchstunde am Tag, wo man sich dann irgendwo in ein Raucherzimmer setzen konnte, um Pfeife und Zigaretten rauchen.
Sandra Knopp: Durften die Insaßen in den Hof damals?
Eduard Winter: Jein. Also die Ruhigen, ja, die durften sogar in den Garten. Es gab Gartenanlagen, links und rechts; nach Geschlechtern getrennt. Und da konnten sie sich frei aufhalten. Sie konnten sich auch in den Gängen frei bewegen. Sie waren ja nicht in den Zellen eingesperrt. Ganz am Anfang gab es nicht mal Türen. Die Originaltüren, die sind erst von Johann Frank eingebaut worden. Ganz am Anfang gab es gar keine Türen, dann gab es Gittertüren. Die konnten sich im Gang in ihrer Abteilung frei bewegen. Die mussten nur am Abend, ich glaube, 18 Uhr war Bettruhe, da mussten sie im Bett liegen.
Sandra Knopp: 1795 wurde Johann Peter Frank Direktor des Allgemeinen Krankenhauses und damit auch des Narrenturms. Einer seiner Reformen betraf die Verpflegung der Patienten.
Eduard Winter: Der hat dann auf eine Zentralküche im Krankenhaus umgestellt. Davor wurde das von den Wirtshäusern geholt. Das war aber dem Krankenhausdirektor ein Dorn im Auge, verständlicherweise, weil die Qualität nicht immer gleichbleibend war und man teilweise nicht aussuchen konnte, was es gab. Und da hat er eine Zentralküche eingerichtet. Und im Narrenturm gab es im jeden Stockwerk auch einen kleinen Küchenbereich, wo für die Abteilung gekocht wurde.
Sandra Knopp: Johann Peter Frank war es auch, der einer beliebten Freizeitbeschäftigungen der Wiener ein Ende setzte: dem sogenannten Narrenschauen.
Christoph Dirnbacher: Die Wiener dürften das ja durchaus genossen haben, des Sonntags zum „Narrenschauen“ die Wände hoch zu klettern, weshalb man die unteren beiden Etagen, den historischen Quellen folgend, recht bald mit glattem Putz versehen haben soll, dass das nicht mehr der Fall ist...
Eduard Winter: (lacht) Genau, das stimmt, das geht auch auf den Johann Peter Frank zurück. Der hat wirklich sehr viele Reformen im Gesundheitswesen durchgesetzt und auch im Allgemeinen Krankenhaus. Und der hat auch im Narrenturm die untersten zwei Stockwerke, wie du gesagt hast, verputzen lassen, damit die nicht mehr hinaufklettern können. Und hat auch Mauern rundherum errichten lassen, dass man nicht mehr so leicht zum Gebäude zukommt. Denn, wie gesagt, in den unteren Stockwerken waren eher die, würde ich mal sagen, die für die Schaulustigen langweiligen Patienten, nämlich Melancholiker, also ruhige Patienten. Die sind halt im Zimmer gesessen und haben nichts gemacht; depressive Patienten. Das ist nicht wirklich spannend für einen Schaulustigen, einen depressiven Patienten zu beobachten, da passiert ja nichts. Und dementsprechend sind sie hinaufgeklettert, da die schwereren Fälle in den oberen Stockwerken waren und zwar aus Lärmgründen - die schreien nämlich auch viel. Und wenn jetzt die schreienden Patienten im Erdgeschoss sind, hört man das im ganzen Turm. Wenn die aber im obersten Stock sind, hört man es nur im oberen Stock. Haben wir ausprobiert, das stimmt (lacht).
Sandra Knopp: Habt Ihr runtergeschrien?
Eduard Winter: Ja, man muss das ja alles nachprüfen. Wenn man schon vor Ort ist, kann man das auch ausnutzen.
Sandra Knopp: Die Konstruktion des Narrenturms lässt sich mit den Schlagwort „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“ zusammenzufassen. Joseph II hatte viele gute Denkansätze, um beispielsweise die hygienische Situation nachhaltig zu verbessern. In der Umsetzung haperte es allerdings gewaltig, wie Eduard Winter erzählt.
Eduard Winter: Es gab zum Beispiel in jedem Zimmer einen eigenen Abort, der an ein Kanalsystem angeschlossen war. Deswegen sind auch die Mauern hier so dick: weil die voller Rohre sind. Da sind also lauter Rohrsysteme eingebaut, einerseits für die Luftheizung, mit der man versucht hat, das Gebäude zu heizen, andererseits für das Kanalsystem.
Das Problem war, dass die Umsetzung nicht ganz ideal war und dass die Fäkalien nicht wirklich abgeflossen sind im Keller, also in diesem Kanalbereich, sondern sich dort gestaut haben, weil es kein Gefälle gab. In den Zellen selber gab es ein Gefälle. Das ist nämlich ganz spannend, die haben alle einen leichten Neigungswinkel Richtung Gang, dass man schön auswaschen kann. Da braucht man nur Wasser reinschütten und das fließt dann automatisch alles…(…) Wenn man in der Zelle drinsteht, Richtung Fenster schaut im linken Eck, da war immer der Abort. Und das ist dann runter ins Kellergeschoss gegangen, hätte dort zum Alserbach fließen sollen. Aber dort unten ist es irgendwo gescheitert. Und dann hat man das zugemacht, auch schon nach ein, zwei Jahren, weil es so gestunken hat. Es muss unglaublich gestunken haben, weil die Fäkalien nicht abgeflossen sind. Und ab dann hat man dann Eimer verwendet, einfach einen Kübel reingestellt und der ist dann einmal am Tag ausgeleert worden.
Man hat also versucht, die hygienischen Maßnahmen und die hygienischen Zustände zu verbessern. Es hat am Anfang halt nicht alles zu hundert Prozent funktioniert, wie man sich das vorgestellt hat.
Sandra Knopp: Auch beim Heizen des Gebäudes gab es wesentlich mehr Probleme, als gedacht:
Eduard Winter: Ja, die Idee war ja eigentlich eine gute Idee: mit Heißluft das ganze Gebäude zu beheizen. Da gab es im Keller vier Heizkammern, die dann eingeheizt worden sind. Und das hätte dann die Luft im Gebäude zirkulieren lassen sollen. Nur hat das halt nicht funktioniert, weil die Luft sich nicht von alleine im Kreis bewegt, wenn man sie nicht dazu zwingt, sondern, sie steigt halt gerade in die Höhe, die warme Luft. Und dementsprechend sind halt einige Zellen sehr warm gewesen, die anderen dafür sehr kalt. Und bei denen, die warm waren, ist auch noch der Rauch mitgekommen, das waren dann im Endeffekt schöne Selchkammern. Und deswegen hat man das nach einer Saison wieder eingestellt und auf Kohlebecken umgestellt.
Sandra Knopp: Schon in den 1820ern wurde eine Schließung des Narrenturms überlegt, da der Bau für den Spitalsbetrieb ungeeignet war. Nach Umbauarbeiten wurde er noch bis 1866 als Anstalt für psychisch Kranke geführt. Danach wurden die Patienten und Patientinnen in andere Anstalten übersiedelt. Nach der Schließung des Narrenturms als Nervenheilanstalt wurden die Räumlichkeiten anderweitig genutzt.
Eduard Winter: Die ersten, die sich angesiedelt haben, waren die Handwerker aus dem Allgemeinen Krankenhaus. Die haben Werkstätten gebraucht, Lagerräume. Das wollte man auch teilweise ein bissl aus dem Krankenhaus weghaben, auch aus hygienischen Gründen. Hufschmiede, Pferde und so weiter, das ist im Krankenhaus nicht so optimal. Jauchegruben auch nicht, die hat man auch schon früher entfernt. Dann haben sich erstmal die Handwerker angesiedelt. Und dann hat man den Turm genutzt für Notfallquartiere.
Es wurden auch Krankenbetten hier immer noch hineingeschoben, aber nur kurzfristig. Also je nachdem, welche Abteilung gerade irgendwo ein Krankenzimmer gebraucht hat, hat man das hier teilweise mitgenutzt, unter anderem auch die Gebärklinik, weswegen es manche mit der Geburtsurkunde „Geburtsort: Narrenturm“ gibt. (lacht) Haben wir auch gefunden, ist sehr spannend.
Und dann später, ab Beginn des 20. Jahrhunderts, hat man hier Wohnungen, Dienstwohnungen für Krankenschwestern eingerichtet, oder auch für Bedienstete aus dem Allgemeinen Krankenhaus, für den Portier zum Beispiel, da waren das eben Dienstwohnungen und später auch für Ärzte.
Sandra Knopp: Die 1870 im Narrenturm eingerichtete Schmiede kann besichtigt werden, sie ist in einer der Zellen im Erdgeschoss untergebracht. Direktor Johann Peter Frank begründete 1796 die anatomisch-pathologische Sammlung – einige Präparate standen sogar in seinem Büro. Die Sammlung dient seit über 200 Jahren der Dokumentation und Erforschung von Krankheiten. Seit 1971 ist diese Sammlung im Narrenturm beheimatet. Im Zuge der Neueröffnung im September 2021 wurde die Schausammlung komplett neu gestaltet. Interaktive Elemente wie Touchscreens kamen dazu. Doch wie gelang der Spagat zwischen Wissenschaft, Pietät und Besucherinteresse?
Eduard Winter:…das ist gar nicht so einfach (lacht). Der Tod und Krankheit, das ist einfach ein sehr heikles Thema. Und das ist ja aus der Gesellschaft mittlerweile komplett verdrängt. Das sieht man nicht, auch die Spitäler, alles abgeschlossen, alles hinein.... Tod und Krankheit sind verschwunden aus der Gesellschaft, das wird nicht mehr wahrgenommen. Das war vor 200 Jahren noch etwas anders. Da sind auch noch Leute viel früher verstorben. Da war die Sterblichkeitsrate auch bei Kindern noch wesentlich höher. Und es hat sich deswegen gewandelt, weil eben mit solchen Präparaten geforscht wurde. Sprich, der medizinische Fortschritt, der geht eigentlich auch auf solche Präparate-Sammlungen zurück, weil man da das erste Mal die Möglichkeit hatte, sich das anzuschauen und auch mehrfach anzuschauen. Und das jetzt modern zu präsentieren war eine gewisse Herausforderung. Aber wir haben da zum Glück schon ein bisschen Erfahrung gehabt, also mussten wir nicht alles neu erfinden, sondern, da haben sich auch schon andere Leute Gedanken gemacht gehabt. Und das Wichtige ist, dass man das möglichst wissenschaftlich präsentiert, sprich, es soll kein Gruselkabinett sein, wo man hingeht, um sich einfach nur einzelne Fälle anzuschauen. Schauen ist ja an und für sich nichts Schlimmes, aber die Schaulust ist dann schon wieder etwas problematisch. Und dementsprechend muss man darauf achten, das möglichst neutral und klinisch zu präsentieren. Deswegen ist unsere Schausammlung auch relativ einfach gehalten, auch von den Farben her, dass das Design ein bisschen in den Hintergrund rückt. Und wir dann wirklich die Krankheit darstellen können. Das heißt, wir haben auch nicht immer nur ein einzelnes Objekt zu einer Krankheit, sondern immer gleich mehrere Varianten davon. Und dazu wissenschaftlich fundierte Texte, wo die Krankheit so gut es geht, in den Möglichkeiten, die man in der Ausstellung halt hat, erklärt wird, sodass die Besucher, die kommen, sich hoffentlich wirklich die Krankheiten anschauen und sich für die Krankheiten interessieren und auch für die Therapieformen, die möglich sind, interessieren. Und nicht deswegen kommen, weil sie Leichenteile schauen wollen. Das versuchen wir schon zu verhindern, so gut es geht.
Sandra Knopp: Seit 2012 ist die Sammlung im Narrenturm Teil des Naturhistorischen Museums. Der Besuch der Schausammlung ist ab 14 Jahren empfohlen. Wichtig ist Eduard Winter, die Besucher nicht alleine zu lassen. Es gibt Führungen durch die Ausstellung und viele erklärende Texte. Der Kustos empfiehlt sowohl Jugendlichen als auch Erwachsenen, sich auf den Besuch im Narrenturm vorzubereiten. Die Beschäftigung mit der eigenen Vergänglichkeit sei unausweichlich, wenn man menschliche Exponate betrachtet. Aufgrund der Sanierung des Narrenturms war die Pathologisch-anatomische Sammlung einige Jahre nicht zugänglich. Bei den Arbeiten, die 2012 begannen, gab es aber so manche Entdeckung. Auch im Innenhof des Narrenturms.
Eduard Winter: Da wurde der komplette Hof aufgegraben, sprich, da wurden die alten Kanalsysteme wieder freigelegt. Da kann man immer noch theoretisch unterirdisch bis zum Alserbach gehen. Es gibt ein paar Gittertüren dazwischen, aber theoretisch ist der Weg noch bis zum Alserbach da. Der Blitzableiter, den wir gefunden haben, war tatsächlich auch wie ein moderner Blitzableiter verbunden, im Hof unten. Der ist verlegt worden, das ist ein Kupferblitzableiter. Den hätte man theoretisch sogar noch verwenden können (lacht), wenn man es wieder hergerichtet hätte. Es war aber dann doch etwas zu unsicher, es ist eine moderne Blitzschutzanlage eingebaut worden, das ist doch besser.
Die ganze Hoffassade ist saniert worden, die Fenster sind saniert worden. Das war ganz spannend, dass da wirklich mehrere Umbauphasen auch entdeckt wurden, wo eben Zwischenmauern eingezogen wurden, die gar nicht original waren, dass teilweise die Fenster umgebaut wurden im Laufe. Das wurde alles immer wieder adaptiert, regelmäßig, weil es einfach praktisch war. Es gab Türöffnungen, die einfach später irgendwo einfach in den Gang geschlagen wurden, weil man dort eine Tür gebraucht hat (lacht), zum Beispiel, weil es gerade praktisch war. Jeder Handwerker hat sich dann seinen eigenen Bereich abgeschottet gehabt. Da mussten halt überall Zugangstüren gemacht werden. Es wurde auch archäologisch begleitet, das Ganze. Und es wurde sogar ein römisches Brandgrab gefunden im Hof, also aus der römischen Zeit. Das war halt hier so ein Gräberfeld einmal.
Sandra Knopp: Voll spannend, und Ihr habt rausgefunden, der Turm war ja vorher recht gelblich, zumindest habe ich ihn noch so als Studentin in Erinnerung. Und Ihr habt rausgefunden, die Originalfarbe ist wirklich schönes, strahlendes Weiß und ihr habt ihn neu gestrichen.
Eduard Winter: Jawohl, das ist nämlich auch sehr praktisch gewesen. Dadurch, dass eigentlich nie wirklich renoviert wurde, sondern immer nur hier so ein bisschen adaptiert und ein bisschen da was umgebaut und meistens nur immer drüber gemalt wurde, ist noch an vielen Stellen der Originalverputz und auch die Originalfarbe noch erhalten gewesen, unter diesen ganzen Dreckschichten und zusätzlichen Anstrichen, was immer da drüber gekommen ist. Und das wurde dann chemisch analysiert und die genaue Zusammensetzung wieder herausgefunden, und das erstrahlt jetzt auf einmal in einem Weiß. Wir haben auch mit einem Gelb gerechnet, deswegen waren wir etwas überrascht, wie dann die Bauforscher gekommen sind und gesagt haben „Das ist die Originalfarbe!“ – „Hmm, schau an!“ (lacht) Aber es ist ganz hübsch geworden, finde ich, das Weiß passt ganz gut, eigentlich.
Sandra Knopp: Für die Zukunft des Narrenturms hätte Kustos Eduard Winter einige Ideen – sowohl pädagogisch als auch architektonisch.
Eduard Winter: Ja also ich hoffe, dass wir nicht nur die Ausstellung unten, die jetzt neu gemacht ist, sondern auch in Zukunft die Sammlungsräume vielleicht noch etwas renovieren, verbessern können, dass wir auch unsere Studiensammlung, die für die Ärzte und Medizinstudenten gedacht ist, überarbeiten und neu aufstellen. Das könnte auch noch irgendwann in Zukunft passieren. Jetzt ist es nicht zwingend notwendig, aber es wäre ein schönes Projekt.
Vielleicht lässt sich sogar mal das Oktogon wiederherstellen. Das wäre etwas, was ich mir wünschen würde (lacht), dass man den Narrenturm wirklich wieder komplett herrichtet, wie er 1984 war, eben inklusive dem Oktogon am Dach. Ich weiß, das ist etwas aufwendig und sehr geldintensiv, aber das wären so Dinge, die man so vielleicht in Zukunft machen könnte.
Und auch das Vermittlungsangebot wieder ausweiten, jetzt, wo die Schausammlung neu gemacht ist, kann man jetzt wieder ein bissel den Schwerpunkt auf die Vermittlungsprogramme legen, dass wir eben nicht nur so Überblicksführungen anbieten, sondern, wir haben auch so viele Themenführungen, die wir jetzt wieder gerne umsetzen, zum Thema, zum Beispiel, Gynäkologie und Geburtshilfe. Da bieten wir jeden Samstag während der Öffnungszeiten, zum Beispiel, eine Spezialführung zu dem Thema an, weil wir auch sehr viele Sammlungen zu diesem Thema übernommen haben. Also die sind von der Semmelweisklinik, die hatten eine Lehrsammlung für die Hebammen, die haben wir übernommen. Die wird jetzt auch wieder neu aufgestellt. Da sind so Sachen, Sonderausstellungen, da gibt es einiges, was man machen kann.
Abmoderation Christoph Dirnbacher: Herzlichen Dank nochmals an den Kustos der Anatomisch-pathologischen Sammlung des Narrenturms, Eduard Winter. Wir danken ihm für eine äußerst facettenreiche Schilderung der freakigen Seiten des Narrenturms.
Zum Abschluss der heutigen Episode noch einige Infos:
Der Narrenturm ist für Besucher und Besucherinnen von Mittwoch bis Samstag geöffnet. Die genauen Öffnungszeiten sowie den Link zur Website entnehmen Sie bitte den Shownotes.
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