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Der Sitzenbleiber ging nach Boston
Walter Christl hinkt. In Österreich war er ein Behinderter. Die Liebe verschlug ihn nach Boston. Dort ist es egal, ob ein Elektriker hinkt. Es zählt nur seine Leistung.
In der ersten Klasse Volksschule blieb Walter Christl bereits sitzen. In der zweiten auch. Als Baby hatte er Kinderlähmung, seither hinkt er. Die Lehrerin meinte, er sei geistig behindert. Er lebte in einer Barackensiedlung in Ried im Innkreis. Die Barackenkinder waren verrufen. „Die Braven waren wir nicht“, sagt er heute, „wir haben uns dem Vorurteil angepasst.
Und mit acht Jahren auf der Straße geraucht.“ Auch die vierte Klasse sollte er wiederholen, doch er war schon zu groß für die Schulbank, so ließ man ihn aufsteigen.
Ein Hauptschullehrer beliebte zu sagen, er würde ihn später in der Bahnhofstraße besuchen – dort ist in Ried das Gefängnis. Den ersten fairen Lehrer hatte er im polytechnischen Lehrgang. „Er gab allen eine Watschen: egal, ob Sohn von Barackenleuten oder eines Hotelbesitzers.“
Nun will es Walter wissen
Christl wurde Hilfsarbeiter in einer Schuhfabrik, dann Schichtführer, dann arbeitslos, als das Unternehmen in Konkurs ging. Er lernte ein Mädel kennen. Ihr Vater sagte: „Mit einem Hilfsarbeiter brauchst nicht herumlaufen.“ Das hat ihn geärgert. Er ging zum Arbeitsamt und verlangte nach einer Lehre, egal welcher. Ein Elektriker nahm ihn. „Weil ich ein Gratisarbeiter war.“ Denn das Arbeitsamt ersetzte für Christl als Behinderten ein Jahr lang die Lohnkosten. Die Berufsschule schaffte er am Ende mit Vorzug. „Ich wollte der österreichischen Engstirnigkeit – der ist ein Hilfsarbeiter und bleibt es ein Leben lang – entkommen.“
Dem Behindertenstatus entkam er nicht. Als einer von vier Elektrikern arbeitete er auf einer Großbaustelle. Der Beste unter ihnen sollte später Betriebselektriker werden. Er war der Beste. Doch der Personalchef beschied ihm knapp: „Ich sag’s Ihnen ganz ehrlich: Wir stellen keine Behinderten ein.“
Die große Liebe
Bei einem Urlaub auf Jamaika lernte Christl eine Amerikanerin kennen. Es war die pure Leidenschaft. Sie kam nach Österreich. Sie heirateten. Sie hatte Heimweh. 1986 zogen beide nach Boston. Er fand Arbeit als Elektroinstallateur auf Baustellen. Leicht war es anfangs nicht. Denn sein Englisch war schlecht. Als es besser wurde, kriselte es in der Ehe – seine Frau entdeckte seine Defizite. Er besuchte Selbsterfahrungskurse und arbeitete an sich. Beruflich lief es gut. Die gewerblichen Zulassungsprüfungen schaffte er dank seiner profunden Ausbildung in Österreich spielend.
Seit fast zweiundzwanzig Jahren arbeitet er bei seinem ersten Arbeitgeber, Crocker Electrical in Quincy bei Boston. Das Unternehmen hat je nach Konjunktur 20-60 Beschäftigte, und der nunmehr 49-jährige Christl ist die rechte Hand des Chefs. Seit 2002 hat er auch eine eigene Firma. Kleinere Aufträge bearbeitet er selber, die größeren teilt er mit Crocker.
Leistung statt Mitleid
Sein Hinken habe ihn in den USA weder behindert noch begünstigt, sagt Christl. „Es zählt nur, ob ich für das Unternehmen Geld verdiene.“ Rückblickend empfindet er es als „Sauerei, was die in Österreich mit mir gemacht haben“ – die Lehrer und die Chefs, die ihn nur als Behinderten sahen. Doch ein paar Menschen gibt es, denen er dankbar ist. Dazu gehören zwei vom damaligen Rieder Arbeitsamt. Als er die Lehrstelle hatte, aber kein Fahrzeug, um dorthin zu kommen, wies der Arbeitsamtleiter seinen Mitarbeiter an: „Mach alles, damit der Walter zu einem Moped kommt.“ Das Geld wurde irgendwie zusammengekratzt. Mit dem Moped – und dem Glauben der beiden an ihn – hat er damals den Einstieg in die Lehre geschafft.