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.Diskriminierende Gedankenlosigkeit in Schule und Journalismus
In einem aktuellem Artikel des SPIEGEL wird, nachdem das Leid der Behinderung ausgiebig betont wurde, von einer Schülerin berichtet, die jetzt in einem Internat mit anderen behinderten Schülern leben muss, weil sie von ihren früheren Mitschülern hinausgeekelt wurde. Hier wird kritisiert, dass SPIEGEL von individuellem Leid, statt von den Rahmenbedingungen spricht, die behindern...
Dieser Artikel "Schulspiegel: Ich bin ein Rolli-Kind" ist wahrhaft kein Ruhmesblatt für den SPIEGEL, sondern betoniert falsche Bilder und Stereotypen, statt Miss-Ständen auf den Grund zu gehen. Das würde ich mir allerdings von investigativem Journalismus erwarten, für den der SPIEGEL für mich eigentlich gestanden ist.
Falsche Bilder
Es beginnt schon mit dem Satz im Teaser, dass die Rollstuhlfahrerin ihr "schwieriges Leben" "meistert". Erstens ist das falsch: Nach dem Lesen stellt sich heraus, dass sie das Leben überhaupt nicht gemeistert hat, sich im Heim unwohl fühlt und gegenüber dem Hänseln und Mobbing völlig hilflos war und ist. Es zeigt sich vielmehr, dass ihr offenbar, als sie gemobbt wurde, niemand helfen konnte. Ihre Isolation, fern von den Eltern, fern von nicht behinderten Menschen, war offenbar der einzige Ausweg, der den anderen eingefallen war. Zweitens ist das Bild von den behinderten Menschen, die "trotz ihrer Behinderung" ihr "schwieriges" Leben "meistern" eine Stereotype:
Strukturelle Defizite werden individualisiert. Wenn behinderte Menschen durch fehlende Rahmenbedingungen und falsches Verhalten eingeschränkt sind, wird auf das Leid des einzelnen fokussiert, statt zu analysieren, was die umfassenden Ursachen der Probleme sind.
Vom gemeisterten Leben kann also überhaupt keine Rede sein, warum steht dann solch ein Satz am Anfang? Und was denkt sich jemand, der oder die so etwas im Teaser schreibt?
Zweitens versteckt sich hinter den blumig-betulichen Formulierungen ein handfester Skandal, der als solcher aber nicht angesprochen wird. Wer behinderte Mitschüler in einer integrativen Schule mobbt, hat Erfolg, und niemand findet etwas dabei!
Die Journalistin und Rollstuhlbenutzerin Christiane Link, die sie sich so etwas allenfalls noch in den 1970er-Jahren erwartet hätte, ruft mit Recht aus: "Leute, so geht das nicht!"
Strukturelle Defizite aufzeigen...
Eine Diskriminierung behinderter Menschen verstößt nicht nur gegen die Menschenrechte, Europäische Gesetze und die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, diese Diskriminierung zerstört auch die individuellen Ressourcen für die Allgemeinheit. Was wäre die Astrophysik ohne den schwer behinderten genialen Wissenschafter Hawking? Stellen Sie sich vor, der wäre in eine Sonderschule gegangen und dann in einer geschützten Werkstätte! Warum müssen behinderte Menschen immer abgesondert und isoliert leben, bloß weil wir uns das so angewöhnt haben und den Umgang mit Behinderung verlernt haben?
Deutschland fällt bei der Integration behinderter Kinder in der Schule hinter andere Europäische Staaten wie Großbritannien, Skandinavien, aber auch hinter Österreich weit zurück: Mit den technischen Hilfsmitteln muss eine Behinderung überhaupt kein Problem mehr sein, das beweisen tausende Schulen in Europa und den USA jeden Tag. In den Köpfen vieler Nicht-Behinderter stecken die Barrieren durch falsche Bilder, und dieser Artikel ist ein gutes Beispiel dafür:
...statt falsche Klischees zementieren
Statt über die Potentiale, individuellen Begabungen und Stärken von Menschen mit Behinderungen zu sprechen, beginnt der Artikel nach dem missglückten Teaser stereotyp: Nämlich mit den Defiziten - somit wird voll das Klischee bedient. Behinderte seien so arm, sie könnten so vieles nicht, unselbständig seien sie und hilflos. Nur manchmal blitzen die diskriminierenden Realitäten durch, aber immer steht die falsche Hilfsbedürftigkeit im Vordergrund. Sie verdeckt, dass es strukturelle Defizite sind, die behinderte Menschen an ihrer Selbständigkeit hindern und von anderen abhängig machen, etwa: "Behinderte Menschen brauchen nämlich viel Hilfe. Wenn wir zum Beispiel allein ins Kino oder in ein Musical gehen wollen, dann muss das Gebäude barrierefrei sein. Barrierefrei heißt, dass Menschen mit Rolli ohne fremde Hilfe hineinkommen."
Ein anderes Bild
Menschen können in der Gesellschaft - egal ob sie eine Behinderung haben oder nicht - ihr Leben vor allem dann optimal gestalten, wenn sie Rahmenbedingungen vorfinden, in denen sie sich auch entwickeln können. Diese Rahmenbedingungen und diese gleichberechtigte Teilhabe fehlt. Das wird in diesem Artikel zwar angesprochen, in seinem Stellenwert aber marginalisiert und bleibt immer am Rand. Wer sind denn die Mitschüler, die gemobbt haben? Warum haben die Lehrer, das Schulsystem versagt?
Warum wird jetzt ein Ghetto-Rolli-Film gemacht und warum nicht einer, in dem behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen etwas unternehmen?
Warum also werden in Deutschland und in vielen anderen Teilen der Welt heute noch immer begabte Menschen mit Behinderungen isoliert, bloß weil die Umgebung nicht mit Behinderung umgehen kann und will?
Was wir aber brauchen, ist ein individuellen Zugang, der zuerst auf die Stärken setzt und dann darauf sieht, wie sich die jungen Menschen zu erfolgreichen europäischen Staatsbürgern entwickeln können, die etwas leisten wollen und können - nicht trotz, sondern mit ihrer Behinderung.