Seitenanfang:

Link zum InhaltLink zum MenüLink zur Suche

Inhalt:

Rubrik: Lesen statt Hören
15. Januar 2006

FREAK-COLLAGE

von Julia Wolkerstorfer

Musik: Ich dachte nicht einmal im Traum dran, dass wir zwei hier heut so plaudern. Feuer ist gegen Dich nur lauwarm. Hast Du noch mal für mich Zeit?

Helene Partik-Pablé: Genauso wie auch dass die Freizeitbereiche besser gestaltet werden müssen. Meine Tochter war am Samstag in der Volksoper. Der Behindertenplatz ist dort so weit hinten ? der Angehörige kann nicht einmal neben dem behinderten Rollstuhlfahrer sitzen, sondern muss dahinter sitzen. Also etwas, was man einem nicht behinderten Menschen überhaupt nicht zumuten würde. Er kostet dafür auch nichts, oder nur 3,50 Euro. Aber wahrscheinlich wäre mancher auch einverstanden auch zehn Euro zu bezahlen, wenn er einen ordentlichen Platz hätte.

Ernst Berger: Der Fortschritt ist eine Schnecke.

Musik

Ernst Berger: Ich möchte mit einem kurzen Rückblick in die Zeit beginnen, als ich selbst Kind gewesen bin. Ich bin Jahrgang 1946, bin aufgewachsen in Wien und habe gewissermaßen die 1950er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hier in Wien verbracht. Und wenn ich zurück denke, was ich damals über behinderte Menschen wusste und heute aus dieser Zeit weiß, so habe ich eine einzige Erinnerung: Wenn ich mit meiner Mutter einkaufen gegangen bin (ich habe in Kagran in der Donaustadt gewohnt) dann sind wir an der Wohnung einer Familie vorbeigegangen, die einen jungen behinderten Sohn hatte. Heute weiß ich, dass es eigentlich ein Wunder ist, dass es diesen jungen behinderten Menschen damals gab und dass er nicht der Vernichtungsaktion der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen ist. Dieser junge Mann hat gelegentlich aus dem Fenster hinaus geschaut und hinaus gerufen, wenn jemand vorbeigegangen ist. Das war mein Bild von Behinderung. Aber das Entscheidende daran ist, er war der einzig behinderte Mensch, den ich in meiner Jugend kennen gelernt habe. Alle anderen haben nicht unter uns gelebt.

Maria Bruckmüller: Utilitaristische Ideologien finden leicht Gelegenheit, um jene Menschengruppen zu reduzieren, deren geringer Wert vielen offensichtlich erschien. Die zynische Mischung von Nützlichkeit und Hilfsbereitschaft wurde vertieft bis hinzu jenen grausamen Tötungen von behinderten Menschen, die spürten, dass sie keinen gesicherten Lebensraum hatten. Wehren konnten sie sich nicht.

Ernst Berger: In Österreich ist dieses Thema lange nicht angesprochen worden. Der Name Heinrich Gross ist heute zwar bekannt, sein Prozess wurde unterbrochen, in Österreich nie geführt. Andere Namen wie der von Hans Bertha, der eine wesentlich größere Rolle gespielt hat als Heinrich Gross in der NS Vernichtungspolitik behinderter Menschen ist auch heute noch unbekannt. Hans Berta war noch bis 1964 Dekan der medizinischen Fakultät in Graz. Niemand hat über seine Rolle öffentlich diskutiert.
Die Rolle, die die Medizin insgesamt und insbesondere auch mein Fach, nämlich die Psychiatrie, dabei gespielt hat, kann gar nicht genug deutlich herausgestrichen werden. Die Medizin und die Psychiatrie hat die Grundlagen der pseudowissenschaftlichen Begründen dafür geschaffen und sie hat die Tötungen durchgeführt. Sie hat damit eine Schuld auf sich geladen, die als ewige Hypothek betrachtet werden muss, die auch nicht tilgbar ist aus der Geschichte dieser Wissenschaft.


Link speichern auf:addthis.comFacebookYiggItMister Wongstumbleupon.comdel.icio.usMa.gnoliaask.comdigg.comTechnoratiYahooMyWeblive.com
Seitenanfang