Inhalt:
.Medien und Behinderung – zwischen Sensation, Mitleid und Moral?
Menschen mit Behinderung in der Opferrolle? Menschen mit Behinderung als Mitleiderregende, passive Geschöpfe, denen man helfen möchte? Oder Menschen mit Behinderung als Helden gefeiert, weil sie aus Sicht der Nicht Betroffenen jeden Tag aufs Neue „Unglaubliches“ vollbringen? Welches Bild kennen Sie aus den Medien?
Medien sind Produkt und Spiegel der Gesellschaft. Sie reflektieren Urteile und Vorurteile über Menschen und deren Lebenswelten. Umso wichtiger ist es daher, dass auch in Medienunternehmen ein möglichst buntes Team an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern tätig ist. Doch für Menschen mit Behinderung ist der Weg zum Traumjob im Medien- und Journalismusbereich oft steinig.
Sprecher: Alexander Pfeiffer
Sprecherin:Julia Karrer
Gestaltung und Sendungsverantwortung: Julia Karrer
Transkription: Julia Karrer
Klaus Voget, Präsident des ÖZIV: Die Gewinnerin des ÖZIV Medienpreises 2008 ist... (Musik) - Dr. Karin Lehner! Herzliche Gratulation! (Klatschen) Darf ich Sie bitten, zu uns auf die Bühne zu kommen! (Applaus)
Sprecherin: Am 12. November war es wieder so weit. Zum dritten Mal vergab der Österreichische Zivil- Invalidenverband ÖZIV den Medienpreis für herausragende Berichterstattung über Menschen mit Behinderung im Arbeits- und Wirtschaftsleben. Ausgezeichnet wurde dieses Mal der Ö1 Radiokolleg-Beitrag „Inselbegabte. Autismus im Wandel“. Die Freude über die Auszeichnung war sehr groß. Sowohl bei der Preisträgerin Karin Lehner, wie auch bei Ihrem Interviewpartner Oliver Tengler.
Karin Lehner, Ö1 Redakteurin: Ich habe mich sehr gefreut, das ist eine Anerkennung für die Tätigkeit beim Radiokolleg. So ein Preis ist ja nicht nur eine Auszeichnung für mich, sondern ich sehe es auch als Auszeichnung für die Redaktion, die es ermöglicht, dass man in die Tiefe gehen kann, dass man sich fundiert mit Themen auseinandersetzen kann.
Oliver Tengler, ORF Funkhausarchiv: Ich finde das wirklich ganz wunderbar, dass Frau Dr. Karin Lehner diesen Medienpreis 2008 für den zweiten Beitrag des Radiokollegs am Montag, dem 26. November 2007, Wetterlage heiter, bekommen hat. Und ich kann ihr nur gratulieren.
Sprecherin: Der Siegerbeitrag setzt sich mit dem Thema Autismus auseinander - einer Entwicklungsstörung, die sich unter anderem in Auffälligkeiten im Kommunikations- und Sozialverhalten sowie in sich wiederholenden Verhaltensweisen äußert. Anfangs hat sich die Diagnose nur auf vage beschriebene Krankheitsbilder beschränkt. In den vergangenen Jahrzehnten gelang es der Forschung, die Diagnose zu präzisieren und auszuweiten. Noch heute herrscht jedoch großer Aufklärungsbedarf.
Karin Lehner, Ö1 Redakteurin: Ich glaube, es ist ein wichtiges Thema, weil viel zu wenig passiert. In den Kindergärten fängt das an, dass es viel zu spät erkannt wird, dass nach wie vor viel zu wenig gefördert wird, dass die Leute oft in der Sonderschule landen, obwohl sie dort nicht hingehören. - Ja, und weil sie Menschen sind wie Sie und ich.
Sprecherin: Bessere Kommunikation und frühzeitige Förderungsangebote beurteilt auch der selbst betroffene Oliver Tengler als sehr wichtig.
Oliver Tengler, ORF Funkhausarchiv: Ich erinnere mich, dass in meinem Leben oft Personen geglaubt haben, dass ich mich blöd stelle, wenn ich mir in gewissen Dingen schwer getan habe oder vielleicht gewisse Fragen gestellt habe. - Und die dann vielleicht als blöde Fragen oder als Fopperei empfunden wurden, und ich oft in meinem Leben angebrüllt wurde und nicht verstand warum. Ich würde es toll finden, wenn es irgendwie gefördert werden würde, dass Menschen mit dieser Wahrnehmung, mit autistischer Wahrnehmung, ernst genommen werden. Es ist wichtig, dass man darauf kommt, dass wenn ein Mensch eine autistische Wahrnehmung hat, dass er sie hat. - Und dass man dann zum Nachdenken beginnt und ihn nicht für einen Trottel oder für jemanden hält, der jemanden auf die Schaufel nehmen möchte und ihn dann schlecht behandelt.
Sprecherin: Wie auch dieses Beispiel zeigt, kann Journalismus Themen aufgreifen, über die man im Alltag zu wenig spricht. Er kann den Gruppen Stimme verleihen, die sonst nur wenig gehört werden. Er kann informieren, aber auch Bewusstsein für gesellschaftliche Umstände und Missstände schaffen. Es liegt am Gestalter, welche Bilder und Assoziationen er in den Köpfen der Mediennutzerinnen und - Nutzern weckt.
Fritz Hausjell, Professor am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien, beurteilt das Bild von Menschen mit Behinderung in den Medien als meist einseitig.
Fritz Hausjell, Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft: Ja, das vorherrschende Bild über Menschen mit Behinderung in den Medien ist leider nach wie vor eines, das mit den Schlagworten Schicksal, Mitleid und Erstaunen, über welche sportlichen Leistungen Menschen mit Behinderung verfügen. Das ist aber ein Bild, das höchst einseitig ist und das der Vielfalt der Lebenssituationen von Menschen mit Beeinträchtigungen nicht entspricht.
Sprecherin: Nach wie vor fehlen die eigentlich selbstverständlichen Informationen in verschiedenen Journalismusformen, kritisiert Fritz Hausjell. Dieser Mangel an Servicecharakter drücke eine gewisse Grundhaltung aus, wie der Kommunikationswisschenschaftler an einem einfachen Beispiel illustriert.
Fritz Hausjell, Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft: Wenn ich in einer Zeitung eine Restaurantkritik lese, dann wundere ich mich, dass ich nach wie vor dort zwar all die Informationen habe über Öffnungszeiten, Adressen, wie gut die Küche ist, wie gut sortiert der Weinkeller ist und wie freundlich der Service und das Ambiente ist. Aber: Ob dieses Restaurant barrierefrei gestaltet ist oder nicht, erfahre ich eigentlich in keiner dieser Rubriken. Ein einfaches Symbol würde völlig ausreichen und es wäre hilfreich für all jene, die nicht nur selber im Rollstuhl sitzen, sondern die mit Freunden im Rollstuhl essen gehen wollen. Warum muss ich da immer extra noch anrufen und fragen: Ist das so? Oder muss mich selbst beim nächsten Mal umschauen, ob ich dort hinein komme mit meinen Freunden.
Sprecherin: Wichtig für einen sensiblen Umgang mit dem Thema Behinderung ist auch die adäquate Verwendung von Sprache in der Berichterstattung. Leider wecken nach wie vor unpassende Ausdrücke falsche Assoziationen. Ein Beispiel dafür ist die geläufige Floskel „an einer Behinderung leiden“.
Fritz Hausjell, Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft: Ich verhehle nicht, dass es solche Menschen gibt. Ich bestreite auch nicht, dass ein Teil unter der Beeinträchtigung leidet. Aber die aller-, allermeisten Menschen, die ich kennen gelernt habe in diesem Bereich, leiden eben nicht an dieser Behinderung: Die leben mit dieser Behinderung und haben sich zumeist sehr, sehr gut auf das Leben eingestellt - sind aktiv, sind eben nicht passiv und erduldend, sondern sind aktiv. Aber es wird ihnen das Leben mitunter schwer gemacht, auch wieder durch eine derartige Darstellung.
Sprecherin: Man hört und liest auch immer wieder Ausdrücke wie, „an den Rollstuhl gefesselt sein“, „taubstumm“ zu sein oder es ist die Rede von den „Behinderten“. Tatsächlich ist der Rollstuhl aber Hilfsmittel, mit dem Menschen, die nicht oder nur schwer gehen können, mobil sind. Gehörlose oder schwerhörige Menschen sind nicht stumm, sondern kommunizieren mit Gebärdensprache und verstehen sich als Angehörige einer Sprachminderheit. Und ein behinderter Mensch ist in erster Linie als Mensch zu begreifen, also als Mensch mit Behinderung.
Peter Radtke, deutscher Schauspieler und Autor mit Glasknochenkrankeit, hat sich nicht nur im Rahmen seiner Tätigkeit für die Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien mit dieser Thematik auseinander gesetzt.
Peter Radtke, Schauspieler und Autor: Vieles hat sich einfach so eingeschliffen, dass es sehr, sehr schwer ist, das wieder aus den Köpfen herauszubringen. Das ist einfach so: Du musst in relativ schneller Zeit deinen Artikel zu Papier bringen. Und dann greift man auf das naheliegendste Klischee zurück. Ein Ausdruck wie „Menschen mit einer Behinderung“ ist eben einfach länger. Und dann kommt es auf jeden Anschlag an und in sofern sind das auch häufig ja wirklich organisatorische Probleme. Da muss man wirklich jedes Mal aufs Neue die Kollegen vom Journalismus darauf aufmerksam machen: Kinder überlegt Euch, was Ihr damit auch in den Köpfen Eurer Leser und Zuhörer anrichtet.
Sprecherin: Nicht nur die Sprache kann das Denken beeinflussen, auch Bilder und Werbekampagnen wirken sich auf das Bewusstsein aus. Gerade in der Weihnachtszeit wird an das Gewissen der sogenannten gesunden Menschen appelliert, denjenigen zu helfen, die sich in einer weniger „glücklichen“ Lage befinden.
Peter Radtke, Schauspieler und Autor: Das ist eine ganz problematische Geschichte. Dadurch, dass es leider nicht genügend Unterstützung für die Betroffenen vom Staat gibt, ist es eben so, dass man zwangsläufig auf private Spenden angewiesen ist. Und da stellt sich eben heraus - es haben wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, dass dieses Drücken auf die Tränendrüse eben doch auch den Geldbeutel öffnet. Wir haben hier zum Beispiel eine große Einrichtung gehabt, die ein Jahr lang versuchte, auf, ich sag jetzt einmal, emanzipatorische Weise, Spendengelder einzuholen. Sie sind auf die Nase gefallen. Die Ergebnisse sind um die Hälfte eingebrochen und das ist also schon... - das ist ein Dilemma.
Sprecherin: Aus Peter Radtkes Sicht wäre die ideale Situation, wenn Spenden von privater Hand gar nicht notwendig wären.
In Österreich beschäftigt sich auch der promovierte Germanist, Buchautor und Politiker Franz-Joseph Huainigg unter anderem mit dieser Thematik. Spenden und soziales Engagement beurteilt er grundsätzlich als wichtig. Das Bild das dabei jedoch von Menschen mit Behinderung vermittelt wird, findet er fragwürdig. Es habe mit der Lebensrealität der Betroffenen wenig zu tun. Man vermittle hier in erster Linie Klischees.
Franz-Joseph Huainigg, Politiker und Autor: Mir wäre wichtig, dass selbst betroffene Menschen, behinderte Menschen, eingeladen wären, mit dem ORF und dem Verein Licht ins Dunkel gemeinsam an einer neuen Ausrichtung dieser Spendenaktion zu arbeiten. Das ist auch in Deutschland gelungen. In Deutschland hat es die Aktion Sorgenkind gegeben – behinderte Menschen wurden in Deutschland als Sorgenkinder angesehen. – Sie haben sich dagegen gewährt, es hat Proteste gegeben und das ZDF hat dann Ende der 90er Jahre einen Paradigmenwechsel vollzogen. Sie haben behinderte Menschen mit in die Redaktion aufgenommen, mit ihnen diskutiert, einen Dialog geführt und die Aktion hat sich gewandelt. Sie heißt heute Aktion Mensch, hat auch vor allem als Ziel, meinungsbildend tätig zu sein. Es gibt auch mit der Behindertenbewegung interessante Kampagnen: eine Plakat-Aktion: „Gleichstellung jetzt!“ Und ähnliche Aktionen. Und das fordere ich auch für Österreich.
Sprecherin: Abgesehen von seinem politischen und sozialen Engagement, ist Franz-Joseph Huainigg auch das Schreiben immer sehr wichtig gewesen – ob als Buchautor oder als Journalist. Dass der Weg zum Traumberuf Journalist vor allem für Menschen mit Behinderung kein einfacher ist, zeigt sein Beispiel.
Franz-Joseph Huainigg, Politiker und Autor: Ich wollte als Kind und Jugendlicher immer Journalist werden. Ich bin in die Handelsakademie gegangen und habe schon in den Ferien immer Zeitungen angeschrieben, ob sie mir nicht ein Volontariat anbieten wollen. - Weil ich würde das gerne machen. Ich möchte Journalist werden, bin behindert. Ich habe nie eine Antwort darauf bekommen. Später habe ich studiert: Medienkommunikation, heißt jetzt Publizistik und daneben wollte ich etwas Praktisches tun, praktische journalistische Arbeit. Und bin dann frech ins Landesstudio Kärnten und habe gesagt: Ich bin da und möchte Radiosendungen produzieren. Fred Dickermann, das war damals der leitende Redakteur, der war gar nicht erstaunt, sondern hat mir die Chance gegeben, das einmal auszuprobieren. Meine erste Sendung war „Heimlich Dichter“ - ist gar nie gesendet worden. Aber ich habe dann doch viele Beiträge gemacht, Kulturmagazin. Damals hat es so große Aufnahmegeräte gegeben, die man kaum tragen konnte, ich schon gar nicht. Und die Interviewpartner haben immer das Gerät tragen müssen.
Sprecherin: Viele seiner Interviews führte Franz-Joseph Huainigg auch in seinem Auto, das er als rollendes Studio umfunktioniert hatte.
Nach wie vor sieht er Journalismus als spannenden Beruf, wenngleich es nicht einfach ist, Fuß zu fassen – ob mit oder ohne Behinderung. Die Konkurrenz sei groß, fixe Anstellungen seien rar und als freier Mitarbeiter habe man mit unregelmäßiger Bezahlung und einem beträchtlichen Maß an Unsicherheit zu kämpfen.
Trotz allem sei es wichtig, dass gerade auch Menschen mit Behinderung in den Medien tätig sind. Berichte von Betroffenen zum Thema Behinderung würden anders aussehen, als von nicht behinderten Journalisten, weiß Huainigg. Die eigene Betroffenheit sei ausschlaggebend für eine andere Sicht- und Herangehensweise an Thema und Interviewpartner.
Was die Integration von Menschen mit Behinderung in die Medienbranche betrifft, ist Großbritannien ein positives Beispiel. Britische Rundfunkanstalten und Medienunternehmen haben sich mit der BBC zum Broadcasters Disability Network zusammengeschlossen. In dem 2002 verabschiedeten Manifest hat man sich unter anderem das Ziel gesetzt, im Medienbereich die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Behinderung zu erhöhen.
Die deutsche Journalistin Christiane Link hat unter anderem bei der BBC Berufserfahrung sammeln können. Auch sie hat festgestellt, dass die Situation in Großbritannien eine vollkommen andere ist als in Deutschland.
Christiane Link, Journalistin und Zeitungsgründerin: Wenn ich bei BBC in der Kantine saß, jeden Nachmittag, gab es kein einziges Mal, dass dort nicht ein anderer behinderter Kollege saß. Ich musste mich da ehrlich gesagt erst einmal daran gewöhnen, weil in Deutschland war ich immer die Einzige, die die Behinderung hatte. Das war auch so ein Sonderstatus, den man übrigens auch sehr gut für sich nutzen kann. Also, da braucht man sich gar nichts vormachen. Das ist nicht immer nur Nachteil. Wenn man einmal mit jemandem prominenten, mit einem Politiker, ein Interview gemacht hat, der erinnert sich bis an sein Lebensende an einen. Weil man eben die einzige Person ist. In England ist das völlig anders. Die Kollegen von BBC, die ich dann in der Kantine getroffen habe, die hatten alle den britischen Presseausweis an der Hose stecken. Das heißt, die waren alle im journalistischen Bereich tätig, während man vielleicht in deutschen Fernsehanstalten auch manchmal behinderte Menschen auf den Fluren sieht - aber die arbeiten dann in der Poststelle...
Sprecherin: Heute ist Christiane Link selbstständig und Herausgeberin einer deutschsprachigen Zeitung in London. Am Weg zur Unternehmensgründung konnte sie ein vielfältiges Unterstützungsangebot in Anspruch nehmen.
Christiane Link, Journalistin und Zeitungsgründerin: Wenn man in England ein Unternehmen gründet und ein bisschen mit offenen Augen durch die Welt geht, bekommt man wahnsinnig viel Support. Und damit rede ich gar nicht von finanziellen Sachen. Ich habe keinen Pfennig Geld von irgendjemandem gekriegt. Darum geht es nicht. Sondern es geht darum, dass man kostenlose Trainingsangebote hat. Es gibt massenweise Kurse: „Wie gründe ich ein Unternehmen in England“, „Wie organisiere ich mein Marketing“, „Wie mache ich meinen Wet-Return“ - also meine Umsatzsteuererklärung. Wie mache ich das. Also, all diese Sachen. Selbst die Steuerbehörde gibt Kurse für Start-Ups, in denen man beraten wird, wie man Steuern spart. - Eine ganz andere Kultur. Und dieser Prozess, ein Unternehmen zu starten, ist ganz anders, als er in Deutschland ist. Dann gibt es eben diese Business Center, wie ich jetzt in einem bin. Ich bin in einem Gründerzentrum, wo man für relativ wenig Geld - die Mieten in London sind normalerweise horrend hoch - aber ein Office für die ersten Jahre bekommt, wenn man startet. Das bekommt auch nicht jeder, aber wenn man eine ganz gute Idee hat und die überzeugt davon sind - Glück gehört natürlich auch dazu - dann bekommt man diese Unterstützung.
Sprecherin: Das Bild, das die britischen Medien von Menschen mit Behinderung transportieren, unterscheide sich ebenfalls stark von dem in Deutschland, hat die Journalistin im Rollstuhl festgestellt.
Christiane Link, Journalistin und Zeitungsgründerin: Ich habe mir einmal angeguckt, wie oft der Guardian im vergangenen Jahr über das DDA, das ist das britische Antidiskriminierungsgesetz für behinderte Menschen, berichtet hat. - Und wie oft die TAZ, die ja jetzt auch eine Zeitung ist, die einmal eher über solche Sachen berichtet, über das Behindertengleichstellungsgesetz in Deutschland berichtet hat. Und ich glaube, die TAZ hatte, wenn ich mich richtig erinnere, drei Artikel, wenn es hochkommt. Und der Guardian 70, in denen allein dieses Wort vorkam. Und das ist halt ein riesiger Unterschied. Das Thema Behinderung wird ganz, ganz stark von der Menschenrechtsseite beleuchtet, von der Seite bei der es darum geht: Wie vermeide ich Diskriminierung, wie ermögliche ich behinderten Menschen in Großbritannien eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft. Und in Deutschland ist es immer noch so, dass sehr stark aus der Mitleidsecke betrachtet wird: Oh, der ist so arm! Oder aus so einer künstlichen Sensationsecke. Also ich kann mich an einen Artikel, den ich einmal gelesen habe, erinnern, da haben sie eine Rollstuhlfahrerin porträtiert, die ihren Führerschein gemacht hat. - Wo ich mich frage: Wo ist jetzt die Story? Also, dass Rollstuhlfahrer Auto fahren können, müsste sich jetzt langsam herumgesprochen haben.
Ausschnitt aus Mat Frasers Show “From Freak to Clique”, Drehorgelmusik mit Jahrmarktsprecher
Sprecherin: Nicht nur im journalistischen Bereich lohnt sich ein Blick nach Großbritannien. Auch britische Bühnen haben oft Interessantes zu bieten. Eine provokante, progressive Show bietet der Schauspieler, Musiker und Entertainer Mat Fraser. Der mit stark verkürzten Armen geborene Performer erzählt in seiner Show „From Freak to Clique“ die Geschichte von behinderten Unterhaltungskünstlerinnen und – Künstlern im Wandel der Zeit. Er spannt den Bogen von Römischen Spielen zu Jahrmarkt-Freak-Shows bis zum heutigen Hollywood.
Mat Fraser, Schauspieler, Musiker und Entertainer: Now of course Freak-Shows are very complicated things...
Sprecher: (Übersetzung voice over) Natürlich sind Freak-Shows ein schwieriges Thema. Ja, sie waren Ausbeutung. Jede Form von Unterhaltung ist Ausbeutung. Man könnte sagen, Freak Shows waren Bewusstseinsbildung für Behinderungen. Die Leute damals wussten nichts über Behinderungen. Betroffene klärten auf. Freak-Shows sind auch die ersten Beispiele dafür, trotz Behinderung Geld zu verdienen, glücklich zu sein und wie mit einer Rock n’Roll Band um die Welt zu touren. Das ist nicht nur negativ.
Wenn du im Jahr 1930 in Alabama, USA an einem Samstag Abend die Straße entlang gegangen wärst und ausgesehen hättest wie ich, hätte man dich wahrscheinlich für dein Äußeres angegriffen. Warum sollte ich also diesen Weg wählen? Wenn ich auch mit meinen Freunden in einem Zirkus sein könnte, jeden Abend auf der Bühne stehen und genug verdienen könnte, um eine fünf köpfige Familie zu ernähren?
Sprecherin: Ähnlich kontroversiell wie die damaligen Freak-Shows auf Jahrmärkten sei auch das heutige Hollywood und das Bild, das hier von Menschen mit Behinderung vermittelt wird, erzählt Mat Fraser.
Mat Fraser, Schauspieler, Musiker und Entertainer: We became metaphors...
Sprecher: (Übersetzung voice over) Wir wurden Metapher. Behinderung ist eine Metapher für Versagen, eine Metapher für das Fehlen von Sexualität und eine Metapher für Zorn. – Nie für positive Dinge. Menschen mit Behinderungen wurden nie gefragt, es ist einfach so passiert. Diese negativen Klischees sind heute zur akzeptierten Norm geworden. Und nun melden sich Personen wie ich zu Wort, um gegen dieses Bild anzukämpfen, um für behinderte Menschen wieder einen neuen Platz in der Gesellschaft zu schaffen.
Sprecherin: Momentan setzt sich Mat Fraser im Rahmen seiner Arbeit vor allem mit dem Thema Behinderung auseinander – ob auf der Bühne, vor der Kamera oder hinter dem Mikrofon, wenn er Podcasts für BBC Ouch produziert. Am liebsten würde er aber im Medienbereich arbeiten, ohne dass das Thema Behinderung im Vordergrund steht.
Mat Fraser, Schauspieler, Musiker und Entertainer: I would love one day...
Sprecher: (Übersetzung voice over)Ich würde wahnsinnig gerne ohne einen Bezug zu Behinderung arbeiten. – Einen Anwalt spielen oder die Fernsehnachrichten sprechen. - Und keiner verliert ein Wort über Behinderung. Sie ist einfach da und jeder hält es für normal, dass es so ist. Ich nehme an, der ultimative Erfolg wäre, wenn behinderte Schauspieler in den großen Filmen spielen würden, in denen es überhaupt nicht um Behinderung geht. Sie spielen einfach aufgrund ihrer Persönlichkeit mit. Das wäre wunderbar.
Sprecherin: Ob im Film, im Theater oder im breiten Feld des Journalismus – dass hier Menschen mit Behinderung als gleichgestellte Akteure tätig sind, ist noch nicht selbstverständlich. Was kann also getan werden? Wie kann sich die Situation ändern? Und wie sieht für betroffene Akteure und Experten heute die perfekte Medienwelt aus?
Fritz Hausjell, Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft: Die perfekte Medienwelt wird es nicht geben, weil die Gesellschaft ständig im Wandel begriffen ist und es immer auch etwas nachzujustieren gibt. Vielleicht reden wir von einer Medienwelt, die künftig fairer ist, gegenüber den einzelnen Gruppen. Dann sieht die für mich so aus, dass ich in einer Redaktion eine relativ ähnliche Anzahl von Männlein und Weiblein habe, von Menschen mit Beeinträchtigungen verschiedener Art und ohne, und von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft. - Und dass diese bunte Redaktion begreift, dass sie gerade aufgrund dieser bunten Zusammensetzung die beste ist.
Christiane Link, Journalistin und Zeitungsgründerin: So lange man es nicht schafft, aus allen gesellschaftlichen Gruppen Menschen an den Medien zu beteiligen - und zwar als Akteure, als Entscheidungsträger - wird es keine Medienlandschaft geben, die auch adäquat mit den verschiedenen Personengruppen, die es in der Gesellschaft gibt, umgeht. Was nicht heißt, dass es eine Garantie ist: Da sitzt jetzt ein Rollstuhlfahrer in einer Redaktion, deswegen berichtet die Redaktion gut. Das reicht noch nicht. Sondern es braucht eine wirkliche Diversity, so sagen die Briten das. Eine Diversity in allen Unternehmen, das ist eine Bereicherung. Ich denke ein Geheimnis der BBC, auch für die Qualität der Berichterstattung, ist, dass sie sehr sehr viel Wert auf Diversity legen.
Peter Radtke, Schauspieler und Autor: Ich würde mir wünschen, dass der Prozentsatz an Betroffenen, den es in der Bevölkerung gibt, also rund 10 Prozent, dass dieser auch in den Medien in ähnlicher Weise vertreten wäre. In den verschiedenen Ebenen. Ob als Redakteure, ob als Moderatoren, auf der Verwaltungsebene. Dass man also tatsächlich auch in den Medien ein Spiegelbild dessen hätte, was ja in der herkömmlichen Alltagswelt auch der Fall ist.
Mat Fraser, Schauspieler, Musiker und Entertainer: I want a disabled newsreader. Somebody with cerebral palsy reading the news.
Franz Joseph Huainigg, Politiker und Autor: Ich glaube, dass man schon auch vermehrt regionale Sendungen machen sollte, in denen auch in Form eines Bürgerbeteiligungsprogrammes verschiedene Gruppen der Bevölkerung mehr einbezogen werden. Ich glaube auch, dass das für ein Demokratieverständnis und gegen die Politikverdrossenheit sehr wirksam wäre.
Mat Fraser, Schauspieler, Musiker und Entertainer: I just want reality reflected. One in seven people in this country have a disability. We don’t see that on TV.
Musik aus Mat Frasers Show "From Freak to Clique"
Sprecher: Sie hörten „Medien und Behinderung – zwischen Sensation, Mitleid und Moral?“ - Eine Sendung von Julia Karrer.
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