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Missbrauch und Gewalt an behinderten Menschen
In den letzten Tagen wurde in der Öffentlichkeit immer wieder das Thema Missbrauch und Gewalt - auch an behinderten Menschen - besprochen. Freak-Radio hat daher eine Sendung mit Betroffenen und der Expertin Rotraud Perner gestaltet.
Freak-Radio-Moderator, Gerhard Wagner: Willkommen zu einer Sendung aus dem ORF-KulturCafe sagt Ihnen Gerhard Wagner. Die für heute vorgesehene Sendung über Banken wird zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt.
Missbrauch und Gewalt an behinderten Menschen ist also das Thema der heutigen Sendung. Vielleicht erinnern Sie sich – eine kurze Zusammenfassung: Es begann mit Berichten über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, später auch an Alternativ-Schulen in Deutschland und sehr renommierten Privatschulen, auch in evangelischen kirchlichen Einrichtungen. Ebenso gab es Missbrachsfälle in ehemaligen DDR-Schulen. Auch die Thematisierung von Gewalt nahm zu: „Watschn“, „Prügeleien“ und Ähnliches an österreichischen katholischen Schulen, an österreichischen Privatschulen.
Missbrauch und Gewalt an behinderten Menschen steht also heute im Mittelpunkt dieser Sendung. Wir wollen uns aber nicht nur auf die Geschichten, die dahinter stehen, konzentrieren, sondern vor allem auf die Strukturen schauen, die Gewalt und Missbrauch NICHT verhindern.
Ich möchte heute folgende Gäste vorstellen: Zunächst Universitäts-Professorin für Prävention, Dr. Rotraud Perner. Sie ist auch Autorin eines ganz aktuellen Buches zum Thema „Kirche, Täter, Opfer“. Ich möchte das gerne zum Anlass nehmen, dass Sie Ihr aktuelles Buch und Ihren Zugang zum Thema Missbrauch und Gewalt vorstellen.
Rotraud Perner: Das Buch versucht, ergänzende Blickwinkel aufzuzeigen, die in der aktuellen Debatte weitgehend fehlen. Also etwa den Blickwinkel darauf, dass man über die Sexualität Bindung und Abhängigkeit herstellen kann und dass das in einer zärtlich-manipulativen Form passieren kann - aber auch in einer sehr gewalttätigen! Auch Schläge haben oft eine erotische Komponente für die Person, die schlägt. Diese Komponente kann übertragen werden auf die Person, die geschlagen wird. Das geht dann in Richtung „Stockholm-Syndrom“.
[Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihnen kooperiert.]
Das ist zum Beispiel ein Aspekt, den ich in diesem Buch beantwortet habe. Aber ich habe mich natürlich auch mit der Frage des Zölibates beschäftigt, und dann gibt es von Kollegen und Kolleginnen Beiträge über Perversion, über das "Opus Dei", über die Schweigedokumente des Vatikan, über das Erleben der Menschen, die in Notsituationen von Geistlichen ausgebeutet wurden. Ebenfalls gibt es Beiträge, die zeigen, dass die Methoden der Grausamkeit in uns allen angelegt sind, und dass es eine Frage der Macht ist, ob man das ausleben kann.
Von der Inquisition – oder man könnte noch weiter gehen bis zu Abu-Ghraib... – Es gibt also viele Aspekte, die alle mit dem Thema zu tun haben: „Wie kann es zu Missbrauch in Einrichtungen kommen, die eigentlich zur Förderung von Menschen da sind?“.
Freak-Moderator: Ich möchte nachfragen, um die Themenrichtung unserer Sendung zu präzisieren:
Sie sprechen hier letztendlich einerseits von individuellen Gewaltakten, andererseits auch von individueller Ambivalenz – Identifikation mit dem Täter - und den dazugehörigen Strukturen.
Rotraud Perner: Ich würde sagen, geschlossene Systeme haben die Macht, dass all das, was im System passiert, im System drinnen verborgen bleibt. Deswegen ist ein Heilmittel Transparenz!
Freak-Moderator: Und genau darüber wollen wir heute sprechen.
Gerda Ressl vom Verein „Behindertenombudsmann“ hat sich in der Praxis mit mehreren solchen Fällen beschäftigt. Vielleicht können Sie uns sagen: Wie kommen eigentlich die Leute zu Ihnen?
Gerda Ressl: Die Leute kommen dann zu mir, wenn sie verzweifelt sind: Wenn ihnen nicht geholfen wird, wenn sie nicht mehr wissen, wo sie Hilfe holen sollen. Bei uns im Verein hören wir die Leute einmal an und dann gehen wir mit ihnen die Schritte, die man machen kann. Wir begleiten sie und lassen nicht locker. Wir gehen bis zur Lösung einer Situation.
Da haben wir natürlich schon viel Erfahrung, haben viel gelernt: Die Leute bleiben bei uns nicht im Regen stehen. Eines ist wirklich frappierend und auffallend: Wenn sie keine Therapie bekommen, wenn ihnen nicht zugehört wird, wenn es nicht bestätigt wird, dass das, was sie fühlen, auch stimmt, dann haben sie die ärgsten Probleme. In dem Moment, wo sie eine Therapie machen können, wo das abgearbeitet werden kann, können sie wieder gut mit dieser Situation leben.
Freak-Moderator: Also kurz gefasst: Wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie allein gelassen werden, sieht man ihnen das auch richtig an und merkt es auch am Verhalten.
Dann würde ich Ihnen gerne vorstellen: Franz Hoffmann. Freak-Radio HörerInnen kennen ihn schon. Er ist selbst von einer Lernbehinderung betroffen. Franz Hoffmann ist unser Leichter-Lesen-Experte bei Freak-Radio. Auch Sie haben uns Geschichten zu erzählen. Sie haben einmal in einer Einrichtung gearbeitet. Wann war das?
Franz Hoffmann: Das war von 1994 bis ins Jahr 2000.
Freak-Moderator: Und da werden Sie uns gleich aus der Praxis erzählen.
In der gleichen Einrichtung hat damals auch Andreas Leber gearbeitet, er war als Betreuer tätig. Wann waren Sie dort, oder sind Sie es noch?
Andreas Leber: Ich bin jetzt nicht mehr dort. Ich war bis 1999 dort. In dem Jahr ist es dazu gekommen, dass ich gewisse Beobachtungen gemacht habe, die meinem Verständnis vom Umgang mit Menschen nicht mehr entsprochen haben. Ich habe das thematisiert. Ich war an mehreren Betreuungsstätten tätig und habe das auch vor Ort thematisiert. Im Endeffekt sollte ich dann irgendwie abgekapselt werden. Dem habe ich mich widersetzt und daraufhin bin ich gekündigt worden. Das war einfacher.
Freak-Moderator: Und jetzt arbeiten Sie in einem ganz anderen Bereich?
Andreas Leber: Da war dann zum Schluss auch Mobbing stark beteiligt, sodass ich mir gedacht habe, ich möchte einmal meine Arbeit nicht mit nach Hause nehmen und bin jetzt als Projektmanager tätig.
Freak-Moderator: Ja, dann bleiben wir doch gleich bei diesen Geschehnissen: Herr Hoffmann, Sie haben ebenfalls zu dieser Zeit in der dortigen Werkstätte gearbeitet, welche Beobachtungen haben Sie gemacht?
Franz Hoffmann: Das waren verschiedene Beobachtungen: Zum Beispiel, wenn der Betreuer nicht wollte, dass der Klient auf einen anderen Tisch greift, dann hat dieser eine auf die Finger bekommen. Oder was ganz krass war: Wenn sie sich nicht anders wehren konnten, weil Leute geschrieen haben, dann haben sie die Leute auch teilweise im Winter auf den Hof gestellt, ohne Jacke.
Freak-Moderator: Wie lange?
Franz Hoffmann: Das war immer unterschiedlich ... etwa eine halbe Stunde …
Freak-Moderator: ...bei kalten Temperaturen ...
Franz Hoffmann: … bei Minustemperaturen war das auch so.
Freak-Moderator: Herr Andreas Leber: Sie können uns dazu wahrscheinlich auch etwas sagen. Sie haben das auch beobachtet.
Andreas Leber: Das kann ich bestätigen! Und das Ärgste, was mir aufgefallen ist und wogegen ich mich dann massiver gewehrt habe, war, dass Menschen, die eingenässt hatten, genauso im Winter hinausgestellt wurden. Damit sie sich das merken, dasmit sie es nicht mehr tun.
Spätestens das war dann so gesundheitsgefährdend, dass man da nicht mehr zuschauen konnte. Interessanterweise war das dann auch Thema mit der Leitung dieser Einrichtung und mit den Vorgesetzten der Leitung. Es wurde zwar nicht gutgeheißen, aber im Gespräch mit anderen hat man schon herausgehört, dass bestimmte Situationen Maßnahmen erlauben, die man sonst nicht ergreifen sollte.
Freak-Moderator: Wie haben Sie darauf reagiert?
Andreas Leber: Ich habe gesagt, das geht nicht, und habe verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen: zum Beispiel, private Beziehungen und berufliche Verwicklungen zu trennen.
Die Reaktion war eigentlich, dass man versucht hat, alles Mögliche zu bieten, einen eigenen Raum für meine Tätigkeiten, aber nicht nachgeben wollte im eigentlichen Sinne. Man wollte das nicht umsetzen.
Im Nachhinein, nachdem ich gekündigt war, habe ich erfahren, dass zumindest Teile von diesen Maßnahmen umgesetzt worden sind, aber man konnte es aufgrund eines Mitarbeiters sozusagen nicht gleich machen.
Freak-Moderator: Das heißt, man hat alles versucht, Zuckerbrot und Peitsche. Nachdem Sie aber bei der Sache geblieben sind und die Wahrheit ans Licht bringen wollten, hat die Institution dann nicht mitgespielt. Könnte man das so zusammenfassen?
Andreas Leber: Ja.
Freak-Moderator: Da würde ich noch einmal gerne Frau Prof. Perner mit in die Runde hinein holen. Das ist ja doch etwas relativ Typisches, oder? Kann man das öfters beobachten, dass die Struktur, die Institutionen so reagieren, dass sie sagen: „Ja, naja, wir bieten dir was, wir tun eh ein bissl was, aber bitte – pscht, pscht, das schadet uns.“?
Rotraud Perner: Ich kenne auch ziemlich viele Beispiele, wo es dann geheißen hat: „Na, können wir das nicht intern regeln? Das gehört ja nicht an die Öffentlichkeit!“ Wo eigentlich die Angst domioniert hat, dass die Institution in einen schlechten Ruf kommen könnte.
Aber das gleiche Phänomen haben wir in den Familien auch, wo es darum geht, die Fassaden zu erhalten, sodass die Leute glauben: „Ach wie wunderbar ist alles“. Dahinter türmen sich dann die Unrathäufchen bis zum riesengroßen Haufen. Und ich denke, das macht es unmöglich, Hilfe zu holen.
Die Problematik ist die Selbstwahrnehmung, zu sagen, ich bin in einer Situation, da weiß ich nicht, wie ich es anders machen soll, also brauche ich eine Art Nachhilfe. Hier muss man natürlich sagen, dass bis zum Ende der 1980er-Jahre Grausamkeit ganz selbstverständlich waren und dass wir heute weiter sind und erkannt haben - und auch den wissenschaftlichen Nachweis haben! - dass das wirklich Körperverletzung bedeutet. Denn Gewaltfolgen verkörpern sich in der Genstruktur des Gehirnes. Das kann man im Nachhinein auch feststellen.
Es ist also nur mehr eine Frage der Zeit, bis das Allgemeingut ist, bis die Leute verstehen: Sie verletzen Gesetze, sie verletzen primär Menschen und haben die Verantwortung dafür zu tragen.
Es ist ja nach wie vor so – wir haben das Verbot der „gsunden Watschen“ zum Beispiel seit 1989 im Jugendwohlfahrtgesetz – und die Leute, die wissen es nicht, und die wollen es nicht wissen! Und sie praktizieren es nach wie vor. Von der Watsche bis zur Folter ist es nur ein winziger Bereich.
Und dann heißt es immer: „Ja, die Gfraster folgen ja sonst nicht!“. Als ob „folgen“ das Wesentliche wäre, dass ein Mensch das tut, was ein anderer will.
Auf diese Willensdurchsetzung zu verzichten und zu überlegen: Was tut der anderen Person gut?: Das ist schon einmal ein wichtiger Schritt. Der zweite Schritt ist dann, mit den eigenen Fantasien zurecht zu kommen: zu glauben, genau zu wissen, was einem anderen guttut.
Freak-Moderator: Ist es nicht auch oft so, dass den Opfern gar nicht bewusst ist, dass sie Opfer waren, sondern oft auch die Schuld bei sich selbst suchen und sich selbst komisch vorkommen und das nicht richtig einordnen können?
Rotraud Perner: Das sind zwei unterschiedliche Dinge: Die einen sagen – das hören wir in der therapeutischen Arbeit dann auch immer – „das war so komisch“. Das heißt, das Wort komisch hat einen Doppelsinn, den lustigen, aber auch diesen seltsam irritierenden, wo man sagt, irgendwas stimmt nicht. Das viel Gefährlichere ist das, was wir in der Psychoanalyse die „Identifikation mit dem Aggressor“ nennen.
Wenn ich hilflos einer Übermacht gegenüber stehe, dann kann ich als Kind, als Jugendlicher, als Angestellter, als schwacher Mensch nicht in Opposition gehen. Ich brauche eine Verstärkung.
Diese kann ich als Erwachsener vielleicht in der Gewerkschaft finden, oder in den Medien, oder in der Wissenschaft, aber als Kind habe ich diese Möglichkeit nicht. Also identifiziere ich mich mit der Person, die mich quält, und denke, es wird schon seinen Grund gehabt haben. Damit baue ich mir selbst eine Eigendefinition von „Ich bin halt so unmöglich“ auf.
Und das ist einer der Gründe, warum die Leute so viele Jahre schweigen. Gott sei Dank haben jetzt viele den Mut zu sagen: „Das, was mir passiert ist, war nicht in Ordnung!“
Freak-Moderator: Ich glaube, das ist jetzt die richtige Stelle für die erste Musikbrücke.
Musik: “Nobody knows, the trouble I’ve seen ...“
Freak-Moderator: Sie hören Freak-Radio auf Ö1campus, heute zum Thema „Missbrauch und Gewalt an behinderten Menschen“.
Mir fällt hier spontan zu unserer Diskussion ein Satz von Franz Grillparzer über das goldene Vlies ein:
„Das nun ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, Böses muss gebären.“
Nach dem, was uns von Prof. Perner erzählt worden ist, wissen wir, dass das eben auch in den Jugendlichen etwas auslöst, das man auch tatsächlich nachweisen kann. Und wir wissen ja auch, dass Opfer später zu Tätern werden können, dass das also wirklich ernst zu nehmen wäre.
Ich würde nun Gerda Ressl bitten, uns einige Beispielen ihrer Beratungen zu erzählen. Es geht ja hier um Machtstrukturen. Wir haben heute schon gehört, es geht immer um jemanden, der mächtiger ist und der diese Position ausnutzen kann, und jemanden, der nicht so mächtig sein kann und dem dann etwas passiert.
Wobei die Mächtigen alle sein können. Die können vertrauenswürdige Personen sein: Priester, Erzieher, Lehrer - übrigens auch Frauen. Sie haben auch ein Beispiel, mit einer Frau in der Täterrolle.
Gerda Ressl: Richtig, das war eine Betreuerin, die mit ihrem Schützling ein Verhältnis angefangen hat. Sie hat die junge Frau danach eiskalt fallen lassen. Die Betroffene konnte mit der Situation überhaupt nicht fertig werden. Sie musste ins Spital und sie war selbstmordgefährdet. Im Spitalsakt ist aufgelegen, ich habe das später selbst recherchiert, dass es durch diesen Missbrauch so weit gekommen ist.
Man hat von Spitalsseite keine Anzeige erstattet, was für die Betroffene natürlich fürchterlich war. Die Therapie, die dort stattgefunden hat – ich habe sie zweimal dorthin begleitet – war gleich null. Ich habe dann eine andere Therapie für sie gesucht. Das war ziemlich mühsam, und ich habe auch erreicht, dass ihr diese Therapie bezahlt wurde, denn sie musste bis dahin ihre Therapie selbst bezahlen. Sie hat Jahre darunter gelitten, dass sie diese Therapie selber bezahlen musste.
Freak-Moderator: Der Missbrauch ist ihr in einer Einrichtung passiert?
Gerda Ressl: In einer Einrichtung, und niemand wusste davon. Mir ist nur aufgefallen, dass sie schlecht aussieht und dass es ihr offensichtlich nicht gut gehen kann! Ich habe den Werkstättenleiter angesprochen, was denn mit der jungen Frau los sei. Der hat das abgestritten und gemeint, es ginge ihr gut. Hinter meinem Rücken ist dann natürlich eine Lawine losgebrochen, weil sie alle nicht gewusst haben, dass ich nicht weiß, was da wirklich war.
Erst eineinhalb Jahre später habe ich dann die Betroffene auf der Straße getroffen, bei strömendem Regen. Sie ist mit mir stehen geblieben, hat mich angesprochen und ich wusste: Wenn ich jetzt nicht stehen bleibe und jetzt nicht mit ihr spreche, dann spricht sie nie mehr wieder darüber. Also habe ich sie angehört, und da hat sie mir die ganze Geschichte erzählt.
Dann habe ich mich auf den Weg gemacht, habe ihr eine Therapie gesucht und geschaut, dass man ihr diese bezahlt. Komischerweise habe ich sie gerade heute getroffen: Ich habe sie auch gefragt, ob ich heute darüber sprechen darf, und sie hat es mir auch bestätigt; sie ist heute darüber hinweg, aufgrund der Therapie und aufgrund des späteren Umgangs mit ihr.
Freak-Moderator: Ich möchte an dieser Stelle auch das Publikum fragen, ob irgendjemand eine Frage an das Podium hätte? ... Nein? Wenn das offensichtlich nicht der Fall ist, würde ich Herrn Franz Hoffmann noch gerne fragen: Sie können eine Geschichte erzählen über eine Ex-Freundin von Ihnen. Da ist offensichtlich das Heim, wo sie gewohnt hat, auch nicht sehr glücklich gewesen. Wie ist damals mit Ihnen umgegangen worden?
Franz Hoffmann: Die ganze Situation war sehr schwierig. Die Einrichtung, in der das vorgekommen ist, wollte eigentlich keine Beziehungen haben. Es geschah zum Beispiel, dass Unterlagen, die jener Betroffenen gehört haben, eine Betreuerin mit nach Hause genommen hat.
Freak-Moderator: Stellen wir das nochmals klar: Ihre Freundin hat in dieser Einrichtung gewohnt und Sie wollten sie besuchen. War das leicht möglich?
Franz Hoffmann: Das war nicht so leicht möglich. Sie musste immer fragen, wann ich kommen darf oder ob ich bei ihr schlafen darf.
Freak-Moderator: Am Schluss sind Sie dann hinausgeschmissen worden? Warum?
Franz Hoffmann: Weil ich eben Sachen aufgezeigt habe, die passiert sind, und die nicht in Ordnung waren. Bis heute hat die zuständige Zentrale - die Leute, die Bescheid wissen, was alles vorgefallen ist - mir gegenüber keine Entschuldigung ausgesprochen oder sonst irgend etwas.
Es war wirklich ein harter Kampf mit dieser Einrichtung. Ich muss sagen, dass für das, was alles vorgefallen ist, trotz allem noch wenig an Folgen für das Personal passiert ist, dass sie eine bessere Schulung bekommen würden oder ähnliches.
Freak-Moderator: Also bei Ihnen war es so: Ihre Freundin war dort und hat darunter gelitten. Das haben Sie auch mitbekommen. Sie haben erzählt, sie wollte eigentlich ausziehen und die Dokumente lagen bei einer Betreuerin, die gerade längere Zeit auf Urlaub war. Sie haben das auch immer zur Sprache gebracht. Aber das ist dann in der Institution auch schlecht angekommen ?
Franz Hoffmann: Ja!
Freak-Moderator: Wir sind wieder beim selben Spiel, Frau Prof. Rotraud Perner! Es ist immer wieder so: Die Institutionen mauern, die Betroffenen tun sich äußerst schwer, aus diesen heraus zu kommen, weil sie in einer Situation sind, wo das ganz schwer geht.
Rotraud Perner: Ich habe jetzt, als Sie gesprochen haben, Herr Hoffmann, die folgendes Bild bekommen: „Rote Karte wegen Kritisierens“, so wie beim Schiedsrichter!
Statt dass jemand sagt: „Danke, dass Sie mir das sagen, darauf müssen wir aufpassen!“, wird sofort die Person, die wahrnimmt, abgewürgt. „Du sollst nicht merken“, das ist der Titel des berühmten Buches von Alice Miller. Es darf nicht wahrgenommen werden! Das zeigt eigentlich, wie unterstützungsbedürftig diese Institutionen sind, dass die so ein schlechtes Selbstwertgefühl haben, dass sie nicht ihre Qualität sichern, das kann man nur im Dialog mit der Kundschaft!
Gerda Ressl: Es waren zuerst die Institutionen, die Macht hatten, und die "Klienten", wie sie genannt wurden, waren diejenigen, die machen mussten, was die Machthaber gesagt haben. Die Zeit hat sich geändert! Vor fünfzehn Jahren wurden Leute noch hinausgeworfen, wenn sie Kritik geäußert haben. Ich habe einige Fälle, die von heute auf morgen hinausgeworfen wurden.
Was das für Familien bedeutet hat, kann man sich ja überhaupt nicht vorstellen. In dieser Situation, die mit Franz Hoffmann zusammenhängt, die ich ja kenne, war es vor zwei, drei Jahren noch so, dass man total abgeblockt hat und so wie bei Ihnen, Herr Leber, gesagt hat: "Das gibt es nicht!" Und derjenige wird dann hinausmobbt oder ähnliches, während man im Hintergrund dann aber an der Sache etwas verändert.
Ich muss sagen, ich habe in den letzten Wochen einen Fall gehabt, da ging es um ähnliche Vorgangsweisen, da habe ich mich dazwischen geschoben und versuche, die Leute an einen Tisch zu bringen. Denn sie waren nicht gewillt, zuzugeben, dass da Fehler passieren und dass man das ändern müsste, oder wenn man was ändert, dass das verbessert werden kann. Dieses Zugeben ist schon ein derartiger Machtverlust, den wollte man einfach nicht in Kauf nehmen.
Hier stehen wir nun auch vor einem Paradigmenwechsel. Es gibt schon so viele Menschen, die das aufzeigen und sich auflehnen, dass die Machthaber sich nicht mehr dem entziehen können, mit den Betroffenen zu sprechen.
Rotraud Perner: Nachdem das Thema auch Sexualität betrifft, muss ich jetzt unbedingt die Sexualität ins Spiel bringen:
Macht war auch immer darauf ausgerichtet, die Sexualität zu kontrollieren. Das heißt, du darfst in einer Institution keinen Sex haben. Das fängt schon beim Händchenhalten und Bussi-Geben an, geschweige denn Geschlechtsverkehr.
Wir haben bestimmte Personengruppen, die dürfen keinen Sex haben. Sex haben dürfen nur die Leute zwischen 20 und, sagen wir, vielleicht 45 oder 40, die brav ihre Steuern zahlen und voll fit sind, womöglich noch den „richtigen“ Body-Mass-Index haben und die richtige Augen- und Haarfarbe etc. Alle Sexualitätsverbote gehen ja weit in frühere Jahrhunderte zurück. Früher waren es bestimmte Berufe, später waren es bestimmte ethnische Herkünfte - und heute haben wir es immer noch, dass bestimmten Leuten das Menschenrecht auf Beziehung abgesprochen wird!
Das haben wir auch in der katholischen Kirche. Sozusagen: "Du darfst nur beim Verein sein, wenn du auf Sexualität verzichtest". Dahinter steckt „Sexualität ist pfui“ und sie wird nur als „schmutzig“ angesehen.
Gerda Ressl: Bei der Kirche empfinde ich es ja als besonders schlimm! Wenn das ein Pfarrer, der uns die Gebote predigt, das sechste Gebot nämlich ... Wie geht es da denn dem Opfer? Das ist ja das Allerschlimmste!
Freak-Moderator: Sie hören schon die Musik im Hintergrund. Ich möchte noch eine Frage an Sie, Frau Dr. Perner richten: Wie können wir am besten in so einer Situation reagieren? Wie können Leute, denen so etwas passiert, sich wehren? Die hören uns vielleicht auch zu, aber vor allem hören uns vielleicht viele Leute zu, die solche Beobachtungen gemacht haben, die so etwas sehen, die damit zu tun haben. Wie reagiert man da am besten?
Rotraud Perner: Ich kann nur den Titel meines vor vier Jahren erschienenen zitieren: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Ansprechen, und zwar fragen: „Was tust du denn da?“ Oder: „Ist das, was du da tust, nicht vielleicht ein Missbrauch?“ Wirklich die Wahrheit erfragen...
Unsere Gedanken laut werden lassen – da brauche ich noch gar nicht einmal aggressiv werden. Aggressiv werde ich dann, wenn ich sehe, die Person respektiert Grenzen nicht, die man ihr setzt. Und Sexualität hat immer etwas mit Grenzen zu tun, mit körperlichen, aber auch mit geistigen.
Freak-Moderator, Gerhard Wagner: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Freak-Radio wird sich auch in den nächsten Monaten, in den nächsten Jahren bemühen, Dinge auf den Tisch zu bringen.
Ich möchte an dieser Stelle nochmals auf Literatur zu diesem Thema verweisen, auf das neueste Buch von Rotraud Perner: „Missbrauch, Kirche, Täter, Opfer“, aber auch auf die vielen Bücher von Alice Miller, die zu diesem Thema sehr viel publiziert hat.
Ich bedanke mich bei den Zuhörern hier im ORF Radio KulturCafé, bei den Mit-DiskutantInnen und auch bei Ihnen an den Computern für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich möchte mich für die technische Unterstützung bei Herrn Gerhard Wald bedanken und verabschiede mich bis zum nächsten Mal.
(Transkription: Rainer Peter Landl)