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.Raus aus der Wohnung! Strukturelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen?
Freak-Radio Redakteur Gerhard Wagner deckt auf: Eine sechsköpfige Familie soll am 15. November 2010 delogiert werden, weil "der autistische Sohn der Beklagten ... mehr als gesunde, normal entwickelte Kinder gelärmt" habe. Damit sei "der Kündigungsgrund verwirklicht", so das Urteil des Gerichts. Freak-Radio lud zu einer Live-Diskussion ins ORF KulturCafé. Ab nächsten Tag berichten zahlreiche Medien, darunter ORF-on oder der KURIER, über diesen Fall.
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Im Paragraph 5 des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes heißt es: "Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person auf Grund einer Behinderung in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde."
Der oben genannte Richterspruch ist in mehrfacher Hinsicht eine durch Gesetze verbotene Diskriminierung. Schon der Artikel 7 der Verfassung spricht eindeutig vom Gleichbehandlungsgrundsatz: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
Ein Urteil im Gegesatz zu Gleichstellungsgesetzen
Auch das österreichische Behindertengleichstellungsgesetz verlangt in Paragraph 1 eindeutig, "die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen oder zu verhindern und damit die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen." Noch deutlicher spricht das Gleichstellungsgesetz in Paragraph 4:
"Auf Grund einer Behinderung darf niemand unmittelbar oder mittelbar diskriminiert werden.
Das Diskriminierungsverbot […] ist auch auf jeden Elternteil anzuwenden, der auf Grund der Behinderung eines Kindes (Stief-, Wahl-, Pflegekindes) diskriminiert wird, dessen behinderungsbedingt erforderliche Betreuung er wahrnimmt."
Der obige Wortlaut des Urteils und auch der vorangehenden Kündigung steht jedenfalls im Gegensatz dazu.
Ebenso deutlich spricht sich im Artikel 5 eine UN-Resolution gegen Diskriminierungen aus, die Österreich 2008 unterzeichnet hat:
"Die Vertragsstaaten verbieten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen.
Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten."
Jene Vorkehrungen, von denen die UNO spricht, sind jedoch offenbar nicht erfolgt. Insbesondere widerspricht diese Gerichtsentscheidung aber Artikel 19 der UN-Resolution: Darin geht es um unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft:
"Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben".
Das Gerichtsurteil unterstellt dem Kind mit Behinderung zudem in herabwürdigender Weise "nicht normal" entwickelt zu sein und stellt es in Gegensatz zu "gesunden Kindern". Dies widerspricht einerseits längst bekannten wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass Behinderung keine Krankheit ist. Damit streicht es andererseits nur die Defizite der Behinderung heraus. Es begründet somit die Delogierung durch die Tatsache der Behinderung ("der autistische Sohn").
So führt die Konzentration auf die landläufigen Defizite der Behinderung zu umfassender Diskriminierung, nämlich zur Delogierung der ganzen Familie. Und damit stellt sich das Gerichtsurteil in Widerspruch zu gänzlich andersartigen Intentionen der Verfassung, des Bundesbehinderten-Gleichstellungsgesetzes und der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
UN-Monitoring-Ausschuss in Österreich
Vor wenigen Tagen, am 28. November 2010 fand in Wien im Sozialministerium eine Sitzung des Monitoring-Ausschusses der Vereinten Nationen zum Thema "Gewalt an Menschen mit Behinderungen" statt. Der Monitoring-Ausschuss überwacht die Einhaltung der UN-Konvention und unterrichtet die Vereinten Nationen über Missachtungen durch die Unterzeichnungsstaaten, zu denen auch Österreich gehört.
Renée Kurz vom Dachverband der Österreichischen Autistenhilfe hat diesen Fall vor dem Monitoring Ausschuss vorgetragen und war diesmal zu Gast bei Freak-Radio. Sie berichtet auch, dass diese Kündigung kein einmaliger Fall sei. "Es hat schon viele Menschen mit Behinderungen gegeben, die deshalb gekündigt wurden".
Für Gerda Ressl vom Verein Behindertenombudsmann ist eindeutig: "Das ist strukturelle Gewalt. Es kommt immer wieder vor, dass sich Menschen in offiziellen Stellen sich an Gesetze nicht halten. Die Privatpersonen sind dann relativ machtlos, denn Zivilcourage ist eher selten. Wir müssen die Leute, die das Sagen haben, wirklich in die Verantwortung nehmen! Es kann nicht sein, dass Österreich Gesetze unterzeichnet und sich dann nicht daran hält! Es darf nicht sein, dass diese Familie auf der Straße steht. Wenn wir da zuschauen, dann hört sich alles Recht auf!"
Renee Kurz ergänzt: "Wir könnten uns diese Urteile ersparen, wenn rechtzeitig Maßnahmen ergriffen wurden und man ausreichend Unterstützung zur Verfügung stellt". Denn im Vorfeld wurde Behinderung immer nur als Verhinderungsproblem betrachtet, und Lösungsansätze wurden mit der Begründung verworfen, dass man eh nichts ändern könne.
Auch hier wieder Diskriminierung nach dem Behinderten-Gleichstellungsgesetzen: Statt Lösungen zu suchen und zu verwirklichen, läuft alles auf die teuerste Aussonderung hinaus: Weg von der Gesellschaft, weg von den Eltern, weg von den Geschwistern - ins Heim. Und das ist viel teurer, als es etwa Schalldämmungsmaßnahmen jemals gewesen wären, die aber seitens der Gebietsbetreuung nicht unterstützt wurden. Ganz abgesehen von der Lebensqualität aller Beteiligten, weiter gemeinsam wohnen zu können...
Renee Kurz von der Autistenhilfe fasst zusammen: "Wir brauchen mehr Zivilcourage. Die Gesetze sind eine Grundlage, nachder wir handeln sollen. Aber: Es erübrigt ein Gesetz nicht, dass wir alle füreinander da sind!" Und Verantwortung übernehmen.
Wie konnte es dazu kommen?
Seit 2006 wohnt die Familie Salman in Hirschstetten. Die Wohnung bekam sie von Wiener Wohnen aufgrund der Größe der Familie. Doch hier kam es zu einem jener strukturellen Konflikte, die der heutige Wohnbaustadtrat und Vizebürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) durch verschiedene Maßnahmen andernorts bereits verhindert hat.
Es handelt sich hier um eine fast vierzigjährige Siedlung mit alteingesessenen Bewohnern. Spezielle Lärmschutzmaßnahmen im alten Gebäude wurden damals jedenfalls nicht vorgenommen, bevor die kinderreiche Familie Salman mit dem behinderten Kind eingezogen ist.
Denn neben der großen Familie mit mehreren Kindern wohnen dort schon viele Jahre Pensionisten mit Ruhebedürfnis, die sich insbesondere durch die Laute des autistischen Sohnes gestört fühlten. Nach Angaben vom Büro Ludwig fühlten sich die Pensionistinnen auch bedroht und berichteten von Angriffen gegen sie. Im Gegensatz dazu beschreibt die Werkstätte den autistischen Sohn Ismail jedoch als nicht fremdagressiv. Er sei zwar in der Werkstätte häufig in Bewegung, jedoch nicht gewalttätig. Als er im KulturCafe bei der Sendung zuhört, ist er selbst in einer ungewohnten Umgebung nicht laut und stört die Sendung nicht.
Gerda Ressl findet das Verhalten der Behörden nicht effizient: "Statt die Familie zu unterstützen, zeigt man die Macht." Damit sei niemandem gedient.
Jetzt ist die Situation offenbar schon zu verfahren, als dass Schlichtungsmaßnahmen wirken können. Eine nachträgliche Schallschutzmaßnahme wurde zwar urgiert, aber nicht finanziell unterstützt. Die Familie hatte bereits um einen Kostenvoranschlag erbracht. Doch sie konnte sich diese Maßnahme allein nicht leisten. Die zuständige Gebietsbetreuung hat mit dem Argument des Delogierungsverfahrens eine Unterstützung als nicht sinnvoll erachtet. Die Delogierung wurde schließlich auch beschlossen. Dass die Familie auch keine Lärmschutzmaßnahmen vorgenommen habe, wurde ihr der einen offizieller Stelle jedoch vorgehalten, obwohl andere Stellen diese Bemühungen der Familie verhindert hatten.
Von dieser Delogierung ist auch die Schwester bedroht. "Uns geht es nicht gut", erzählt sie in Freak-Radio im ORF-KulturCafe. Die Nachbarn haben sich wegen Lärms beschwert. Dies wurde mit der Behinderung begründet, deshalb wurde die Delogierung ausgesprochen. Die Mutter fürchtet mit Tränen in den Augen um die Bildung ihrer gut lernenden Töchter, wenn sie die Wohnung nicht mehr haben, vielleicht nicht mehr in dieselbe Schule gehen können - und - im schlimmsten Fall - die Familie zerissen wäre.
Stellungnahmen der Politik
Aus dem Büro von Vizebürgermeister Michael Ludwig bedauert man die Delogierung:
"Die Situation von Familie Salman ist sehr bedauerlich. Wiener Wohnen hat die Möglichkeiten, im Sinne aller Beteiligten eine Entspannung der Situation herbeizuführen, voll ausgeschöpft. Wie in allen Fällen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens ist jedoch gegenseitige Rücksichtnahme und die Bereitschaft aller Beteiligten sich für ein harmonisches Zusammenleben einzusetzen, Voraussetzung."
Laut ORF-on bemüht sich der Vizebürgermeister Ludwig nunmehr um ein Ersatzquartier, allerdings nicht in einer Gemeindewohnung. Auch die Betreuung des autistischen Buben müsse sichergestellt werden.
Es bleibt nur zu hoffen, dass damit nicht eine Zerreissung der Familie und die Unterbringung des Autisten in einem Heim gemeint ist. Freak-Radio hat vom mysteriösen Tod und Miss-Ständen in einer Wiener Einrichtung mehrmals berichtet, in der auch Autisten wohnen.
Außerdem würde mit der Hälfte des Betrages solch eines Heimplatzes die Sanierung einer Wohnung so erfolgen, dass mit Schalldämmung die Familie weiter gemeinsam leben kann und nicht zerissen werden muss, meint Renée Kurz von der Autistenhilfe. Diese Trennung, diese Aus-Sonderung widerspricht grundsätzlich dem Behinderten-Gleichstellungsgesetz und der UN-Resolution. Zudem auch der UN-Kinderrechtskonvention. Denn es besteht sogar die Gefahr, dass auch die anderen Geschwister nicht zusammenbleiben können, sondern die Familie in verschiedene Teile geteilt wird. Das Jugendamt steht schon vor der Tür, schildert Renée Kurz.
Mehr als dreißig Gäste konnten sich am 3.November im KulturCafe jedenfalls überzeugen, dass es zu keinen unangenehmen Störfällen gekommen ist, obwohl die fremde Umgebung und die Aufregung der Familie durch Angst vor der Delogierung und durch die Sendungsaufnahme über sie ein Stressfaktor war.
Gemeinderätin Claudia Smolik von den Wiener Grünen ist der Fall schon länger bekannt. Die Grünen hätten sich bei Wiener Wohnen noch am 2. November bemüht, "ob wir diese Delogierung vielleicht noch verhindern können. Leider war dieses Gespräch nicht erfolgreich. Wiener Wohnen fühlt sich nicht mehr zuständig […] Leider, muss ich sagen! Und es ist schade, dass diese Causa so eskalieren musste." Für die Grünen wäre Wiener Wohnen gefordert gewesen, hier frühzeitig zu reagieren und deeskalieren:
"Wir fordern schon lange eine bessere Delogierungsprävention und vor allem, wie schon gesagt, keine Delogierungen von Familien mit Kindern und schon gar nicht dann, wenn Menschen mit Behinderungen betroffen sind. Hier muss es einfach eine für alle akzeptable Lösung geben!"
Freak-Radio und Freak-Online werden in dieser Sache weiterhin am Ball bleiben und darüber berichten.
Haftungsausschluss: Bitte beachten Sie, dass dieser Beitrag aus dem Jahr 2010 stammt - es kann daher vorkommen, dass damals beschriebene Tatsachen nicht mehr der heutigen Rechtslage entsprechen.