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Rubrik: Lesen statt Hören
02. März 2008

Sprache macht Wissen

von Christoph Dirnbacher

Der 21. Februar 2008 war der UNESCO-Tag der Muttersprache. Anlass für den Österreichischen Gehörlosenbund, eine Kundgebung für bilingualen Unterricht am Wiener Minoritenplatz zu veranstalten.

Freak-Moderator: Der 21. Februar 2008 war der UNESCO-Tag der Muttersprache. Anlass für den Österreichischen Gehörlosenbund, eine Kundgebung für bilingualen Unterricht am Wiener Minoritenplatz zu veranstalten.

Hintergrund der Demonstration war die Novellierung des Lehrplans für Sonderschulen. In seiner Stellungnahme zu diesem Lehrplan fordert der österreichische Gehörlosenbund "bilingualen Unterricht", also ein Nebeneinander von Lautsprache und Gebärdensprache an Österreichs Schulen.

Der erste Teil des Freak Bildungsschwerpunktes trägt den Titel "Gebärden ohne Barrieren". Gestaltung Julia Karrer, Technik Gerhard Wald.

Freak-Sprecherin: Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) wurde vor zweieinhalb Jahren in die Verfassung aufgenommen und ist seither offiziell anerkannt. In der Praxis sieht es jedoch anders aus. An Schulen und Universitäten kommt die Gebärdensprache noch äußerst selten zur Anwendung. Ein Mangel der zu ungleichen Chancen für Gehörlose Menschen im Bildungsbereich führt.

Das Bildungsniveau von Gehörlosen sei mit dem von Hörenden nicht vergleichbar, meint Katharina Schalber, Mitautorin der Studie "Sprache Macht Wissen". Das Bildungsangebot sei beschränkt. Frust und negative Erfahrungen gehören zum Schulalltag, teilweise wären 16-jährige Gehörlose auf dem Bildungsstand von 11-jährigen Hörenden. Doch in Politik und Öffentlichkeit sind diese Umstände bisher kaum wahrgenommen worden, so Katharina Schalber.

Katharina Schalber: Diese Erfahrungen wurden alle nicht als gültig empfunden, ihre Gültigkeit wurde von der damaligen Ministerin 2005 abgesprochen. Und auch die Cheers-Studie in Oberösterreich, die klar gezeigt hat, dass Gehörlose benachteiligt werden, wurde nicht weiter verfolgt. Und was ist bis jetzt passiert? Nichts.

Auch die Studie, an der ich selber mitgearbeitet habe: "Sprache Macht Wissen", die vor kurzem fertig gestellt wurde, zeigt, dass ÖGS im Bildungssystem einfach keine Relevanz hat. Nur eine einzige Gehörlosenschule setzt sich wirklich für Gebärdensprache ein und bietet diese auch in Form von bilingualem Unterricht an. Alle anderen Schulen wählen den Weg der Hörenden, den Weg der Integration von gehörlosen Kindern in eine hörende Welt. Das bedeutet oft Assimilation.

Freak-Sprecherin: Der neue Lehrplan könnte es nun möglich machen, nationale und internationale Forschungsergebnisse aus der Sprachwissenschaft mit einzubeziehen und bilingualen Unterricht durchzusetzen.

Katharina Schalber: Aber was ist passiert: Auch im neuen Lehrplan wird ÖGS nicht als Bildungssprache anerkannt. Es ist keine Rede von bilingualem Unterricht. ÖGS ist seit 2005 eine anerkannte Sprache in Österreich. Sie ist in der Verfassung verankert. Es ist Zeit, dass sie auch als Bildungssprache verankert wird und dass Gehörlose in ÖGS als auch in Deutsch unterrichtet werden.

Freak-Sprecherin: Die Betroffenen möchten bei der Gestaltung dieses Lehrplans mitreden, sie erhoffen sich Verbesserungen im Schulbereich.Helene Jarmer, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes dazu: (Dolmetscher: Ferdinand Leszecz)

Helene Jarmer: Es wurde hier eine österreichweite Kommission einberufen, die sich zu der Novellierung des Lehrplans regelmäßig getroffen hat. Allerdings wurden wir als Betroffene hier nicht eingeladen. Wir konnten nur unsere Stellungnahmen abgeben und haben dann bei einem persönlichen Termin einige Änderungen eingebracht. Allerdings hat sich danach nichts Dementsprechendes verändert.

Es bleibt dabei, dass der Unterricht hauptsächlich „hörgerichtet“ stattfindet, Gebärdensprache ist im Unterricht nicht vorgesehen. Es ist also keine der von uns geforderten  Änderungen umgesetzt worden.

Freak-Sprecherin: Nicht nur im Schulbereich, auch auf Hochschulebene sollen Veränderungen herbeigeführt werden.

Helene Jarmer: Im Zusammenhang mit dem Hochschulgesetz haben wir über die ÖAR, die Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, immer wieder auch Unterlagen und verschiedene Stellungnahmen bekommen. Auch zum Thema Hochschulgesetz.

Es gibt eine berufsbegleitende Ausbildung für LehrerInnen, die im Schwerhörigen oder Gehörlosen Bereich arbeiten. Diese sollte auch novelliert werden. Das Bundesinstitut für Gehörlosenbildung unter Frau Direktor Strohmeier hat hier sehr viel Einfluss. Das Institut hat hier mitgearbeitet und in Absprache mit anderen Organisationen Inhalte eingebracht.

Es sind allerdings nur 35 Stunden begleitender Gebärdensprachunterricht vorgesehen. Dieser ist nicht verpflichtend. Eigentlich müssten es viel, viel mehr Stunden sein, zwischen 510 bis 570 Stunden. Das Fach Gebärdensprache kommt im Unterricht nicht vor. Auch die Grammatik der Österreichischen Gebärdensprache wird nicht unterrichtet. Ebenso wenig werden Gehörlosengeschichte oder Kultur unterrichtet.

Außerdem ist es immer noch so, dass Gehörlose, wenn sie das Lehramt ergreifen möchten,  auch eine körperliche Eignung nachweisen müssen. Das heißt, Gehörlose werden kontrolliert, ob ihre Sprechfähigkeit ausreicht. Das ist ein Umstand, den wir in dieser Form nicht weiter tolerieren wollen. Wir hoffen, dass wir heute auch bei diesem Termin im Unterrichtsministerium endlich eine Veränderung erreichen. Der Lehrplan ist die letzten Jahre über praktisch gleich geblieben. Es gab keine namhaften Veränderungen.

Freak-Sprecherin: Dass Reformbedarf im Bildungswesen besteht, machen verschiedene Studien deutlich. Barbara Hager, Vorstandsmitglied im Verein österreichischer gehörloser Studierender, kurz VÖGS, dazu:

Barbara Hager: Laut einer Umfrage, des VÖGS besuchen nur 20 Gehörlose die Universität. Es ist aber extrem aufwändig und sehr mühsam für die gehörlosen Studierenden, sich dem Niveau von Hörenden anzugleichen. Die Umfrage hat ergeben, dass gehörlose Studierende aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen die sie vorfinden viel länger brauchen als ihre hörenden KollegInnen. Deshalb muss ÖGS gleichzeitig mit deutsch angeboten werden, damit die Kinder zweisprachig aufwachsen können.

Musik

Freak-Sprecherin: Aber warum ist Zweisprachigkeit und bilingualer Unterricht an Schule und Universität so wichtig für Gehörlose? Warum reicht es nicht aus, Betroffene in Klassen zu integrieren, die rein mit Lautsprache arbeiten? Rudolf De Cillia ist Professor am Institut für Sprachwissenschaft an der Universität Wien. Zur Kundgebung konnte er leider nicht persönlich kommen. Den Organisatoren hat er folgendes Statement zukommen lassen.

Rudolf De Cillia: Die Spracherwerbsforschung sagt uns, dass der Spracherwerbsmechanismus, mit dem jedes Kind ausgestattet ist, nur funktioniert, wenn er mit natürlichem Input gefüttert wird. Es braucht möglichst authentische sprachliche Kommunikation in seiner Umgebung.

Voraussetzung dafür ist, dass der sprachliche Input auch sinnlich wahrgenommen werden kann. Hörende Kinder nehmen die Lautsprache wahr, gehörlose Kinder aber nicht. Ihr natürlicher Input ist ein visueller, ihre natürliche Erstsprache ist die Gebärdensprache. Nur wenn die Kinder diesen visuellen Input bekommen kann der Spracherwerb gut funktionieren.

Sie sollten daher die Gebärdensprache in der Schule lernen, weil sie ihre Erstsprache ist und weil nur ein solides Fundament in der Erstsprache eine Garantie für einen guten Zweitspracherwerb der deutschen Sprache darstellt. Da die Beherrschung beider Sprachen in unserer Gesellschaft wichtig ist, stellt bilingualer Unterricht in ÖGS und deutsch meiner Einschätzung nach die beste Form der Sprachförderung für gehörlose Kinder dar. Dies würde ihnen dieselben Bildungschancen wie Hörenden Kindern geben.

Freak-Sprecherin: Wissenschaftlichen Hintergrund zu dieser Problematik liefert auch die kürzlich erschienene Studie "Sprache Macht Wissen". Die Autorinnen Verena Krausneker und Katharina Schalber haben die Ergebnisse ihrer Arbeit am 4. Februar 2008 an der Universität Wien präsentiert. Das Interesse an der Situation gehörloser Schülerinnen und StudentInnen in Österreich war groß. Mehr als 160 Personen, viele davon selbst gehörlos, haben an der Tagung teilgenommen und ihren individuellen Beitrag geleistet.

Die Studie "Sprache Macht Wissen" nimmt den Bereich Schule und Universität in Bezug auf die Kommunikationssituation und den Einsatz von ÖGS genauer unter die Lupe. Ziel war, auf Basis der bestehenden Situation der Gehörlosenbildung, praxisbasierte Innovationspakete zu entwickeln. Katharina Schalber fasst die derzeitige Situation an der Universität Wien so zusammen:

Katharina Schalber: Studierende haben wenig Unterstützung an der Universität Wien. Ihr Studium ist nicht barrierefrei, da es viel zu wenig Dolmetschbudget gibt. Das heißt, sie müssen mit einem Minimum an Dolmetschunterstützung studieren.

Was die Forschung anlangt, so konnten wir an der Universität Wien nichts feststellen. Es gibt keine angestellte Person, die sich mit diesen Themen beschäftigt. Weder von der sprachlichen Seite her gesehen, noch im Rahmen von Gehörlosenpädagogik oder anderen relevanten Themen. Es gibt zwei Lektorinnen, die sich mit diesen Themen beschäftigen. Die eine ist auch gehörlos und unterrichtet am Institut für Bildungswissenschaft und am Institut für Sprachwissenschaft. Ihre Lehrveranstaltungen sind sehr, sehr gut besucht, Es gibt weit mehr Anmeldungen als Plätze.

Weiters konnten wir feststellen dass das Interesse von Seiten der Studierenden enorm ist. Viele hörende Studierende setzen sich mit diesem Thema auseinander und möchten sich gerne weiter qualifizieren. An der Universität Wien gibt es derzeit keine Möglichkeiten dazu.

Freak-Sprecherin: Einige positive Entwicklungen können aber auch im Universitätsbereich verzeichnet werden.

Katharina Schalber: Es gibt, was sehr positiv ist, mittlerweile ungefähr 50 Videoeinblendungen mit OGS auf der Homepage der Universität Wien. Geboten werden einführende Erklärungen zur Organisation der Universität, zum Beispiel wie man sich inskribiert oder wie man sich einen Bibliotheksausweis holt.

Weiters hat sich jetzt in der letzten Zeit auch herauskristallisiert, dass es wahrscheinlich ein Erweiterungscurriculum am Institut für Bildungswissenschaft geben wird, Allerdings ist die Finanzierung bzw. Budgetierung noch unklar.

Auch sehr positiv ist, dass gehörlose Studierende, (im Erhebungszeitraum ungefähr zehn Personen), die an der Universität Wien studiert haben, sich selber sehr stark vernetzt haben. Es gibt den Verein österreichischer gehörloser Studierender, die seit ein paar Jahren sehr aktiv und sehr engagiert um ihre Rechte oder Sache kämpfen und auch sehr erfolgreich sind.

Mit Hilfe des VÖGS , Student point und dem Institut für Sprachwissenschaft wurde ein Leitfaden herausgegeben, der an alle Lehrenden geschickt wurde. In diesem wird Grundlegendes über den Umgang mit Gehörlosen dargestellt. Auch die Barrieren mit denen gehörlose Studierende täglich konfrontiert sind werden beschrieben.

Freak-Sprecherin: Für den Bereich Schule haben die Autorinnen Verena Krausneker und Katharina Schalber Ergebnisse von drei der insgesamt sechs Gehörlosenschulen in Österreich gewinnen können. Die Anderen haben eine Teilnahme verweigert oder zu wenige Fragebögen zurückgeschickt, was eine repräsentative Auswertung nicht möglich gemacht hat.

Neben schriftlichen und mündlichen Daten wurde die Studie durch teilnehmende Beobachtungen in Gehörlosenschulen und Integrationsklassen ergänzt. Zu einer Kooperation mit Linz und Graz ist es nicht gekommen. Erhebungen haben daher nur in Wien, Salzburg, Mils (Tirol) und Dornbirn stattgefunden.

Katharina Schalber: Kurz zusammengefasst: Es besteht Reformbedarf. Das betrifft zum einen die Gehörlosenschulen selbst, weil von den sechs die es in Österreich gibt, sich nur eine klar zur österreichischen Gebärdensprache positioniert und klar sagt, ja wir unterrichten auch in Gebärdensprache. Alle anderen Schulen positionieren sich nicht klar beziehungsweise haben einen klaren monolingualen Ansatz, sprich deutsch, wo die Kinder nur rein lautsprachlich unterrichtet werden.

Wir haben aber auch gesehen, dass die meisten Lehrerinnen dann doch immer wieder Gebärden oder Gesten einsetzen, aber die wenigsten haben wirklich gute Gebärdensprachkompetenzen, was kein Wunder ist, da es keine ÖGS-Kompetenz erfordert, um ein Gebärdensprachlehrer, ein Gehörlosenlehrer oder -lehrerin zu werden. Es erfordert kein Wissen im Umgang mit gehörlosen Kindern oder im Unterricht mit gehörlosen Kindern, da dies in der LehrerInnenausbildung nicht vorgesehen ist, sondern nur berufsbegleitend.

Freak-Sprecherin: Eltern haben die Wahl, ihr gehörloses Kind in eine Regelschule oder Sonderschule zu schicken. Eine weitere Möglichkeit sind Integrationsklassen, sogenannte I-Klassen, in der zwischen vier und sechs behinderte Schülerinnen und Schüler mit nicht-behinderten Kindern unterrichtet werden. Steht keine I-Klasse zur Verfügung gibt es die sogenannte Einzelintegration. Aber was bedeutet es für ein Kind mit Hörbehinderung integrativ unterrichtet zu werden? Verena Krausneker über Vor- und Nachteile:

Verena Krausneker: Ich möchte die Contras erklären. Das eine, was wir auch gesehen haben ist, dass es eindeutig Schwierigkeiten gibt im Sprachverstehen zwischen Lehrenden und Lernenden in solchen Klassen.

Das zweite ist, dass integrative Situationen nicht immer auf dem Wunsch der Jugendlichen oder Kinder basieren. Oft ist das der Wunsch von Eltern oder Lehrenden, weil Sonderbeschulung noch immer stigmatisiert ist. Lehrerinnen sagen, es gibt Kinder, die eindeutig wo anders mehr profitieren würden. Die Eltern sagen, nein, das Kind bleibt mir hier in der so genannten normalen Schule, der normalen Klasse.

Freak-Sprecherin: Zum Stichwort normal ist auch zu sagen:

Verena Krausneker: Einer der Betreuungslehrer bzw. Begleitlehrer hat uns den Terminus Normalisierungsfalle „geschenkt“. Seiner Ansicht nach ist es ein großes Problem, dass diese integrierten Kinder oft scheinbar ohnehin gut mitkommen, es läuft ohnehin alles bestens. Diese Kinder sind oft Meister im Kopieren von Reaktionen und unglaublich schnell im Beobachten, was die anderen machen und tun das dann auch. Sie sind bei jedem Blödsinn dabei und es entsteht der Eindruck, es läuft alles normal mit ihnen. Er bezeichnet das als eine Falle, die darüber hinweg täuscht, wie viel das hörbehinderte Kind vom inhaltlichen Unterricht tatsächlich mitnimmt.

Freak-Sprecherin: Normierungsdruck wird einerseits auf die Eltern der betroffenen Kinder ausgeübt, andererseits geben Eltern diesen Druck auch an die Kinder weiter.

Verena Krausneker: Der Normierungsdruck in diesem Bereich ist groß und vielfältig. Es gibt einen massiven Druck auf Eltern, normale Kinder zu haben und es gibt einen massiven Druck von Eltern auf die Kinder, normal zu sein. Leider. Viele, viele Pädagoginnen haben uns davon erzählt, wie schwierig es für Eltern sein kann ihr Kind so zu akzeptieren wie es ist. Das gilt sowohl in der Schulzeit, auch noch später im Jugendlichenalter.

Freak-Sprecherin: Ein weiteres Problem, speziell bei Einzelintegration, ist das der Isolation.

Verena Krausneker: Wir haben von Kindern gehört und sie auch besuchen können, die noch nie in ihrem Leben jemanden getroffen haben, der so ist wie sie selbst. Wir haben von einem Volksschulmädchen gehört, dass ihre Mutter gefragt hat: "Wenn ich groß bin habe ich auch kein Ziel mehr, so wie du?" In der Fachliteratur ist dieses Phänomen bekannt:: Kinder wissen nicht, wie sie sein werden wenn sie erwachsen sind, weil sie noch nie einen Erwachsenen getroffen haben der auch hörbehindert ist. Das haben wir leider auch in der Realität feststellen müssen.

Freak-Sprecherin: Problematisch können auch die Mindererwartungen sein, die den gehörlosen Schülerinnen und Schülern entgegen gebracht werden.

Verena Krausneker: Es gibt das Phänomen, dass einerseits das integrative Setting einem hörbehinderten Menschen sehr viel abverlangt. Andererseits berichten  LehrerInnen folgendes: Dadurch dass es bei IntegrationsschülerInnen die Möglichkeit gibt sie immer wieder zurück zu stufen, werden niedrigere Erwartungen gestellt.

Es wird akzeptiert, dass offensichtlich an der Informationsvermittlung etwas nicht klappt und es wird akzeptiert dass diese Schülerin, dieser Schüler immer weiter zurückfällt. LehrerInnen haben uns darauf hingewiesen, dass das nicht immer mit den Kompetenzen des Schülers, der Schülerin zu tun hat, sondern damit, dass etwas an den Rahmenbedingungen nicht optimal ist.

Freak-Sprecherin: Verena Krausneker spricht weiters von einem sehr starken Druck, einer Doppelbelastung mit der gehörlose Schülerinnen und Schüler zurecht kommen müssen. Um das gleiche Ziel wie ihre hörenden Schulkolleginnen und -kollegen erreichen zu können, müssen sie mehr leisten. Auch ein Punkt, durch den die Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtigt ist.

Integrativer Unterricht kann aber nicht nur negativ gesehen werden. So ist er beispielsweise meist der einzige Weg zur Matura und zu gleichen oder ähnlichen Berufschancen.

Verena Krausneker: Integrativer Unterricht ist ab einem gewissen Schulniveau die einzige Chance gleiche Bildungsziele zu erreichen. Es gibt in Sonderschulen nicht die Möglichkeit zu maturieren. Es gilt als absolutes Positivum zu sehen, dass in diesen Settings ein Messen mit den hörenden KollegInnen möglich ist und es haben uns LehrerInnen erzählt, dass gehörlose SchülerInnen an Selbstbewusstsein gewinnen, wenn sie sagen, ich werde gleich benotet wie die anderen. Es ist eine Motivation wenn man von sich sagen kann, ich habe die beste Mathematikschularbeit geschrieben.

Der dritte positive Aspekt ist ein ganz wichtiger und ein zentraler: nur durch integrative Schulsettings ist es für viele Kinder, vor allem in ländlichen Gebieten, möglich, weiter zu Hause zu wohnen und in ihrer Familie groß zu werden. Das ist natürlich auch ein Entscheidungsfaktor für Eltern.

Ein weiterer positiver Effekt ist, dass man durch integrative Settings Alltagssituationen leben lernt. Das heißt, in einer Situation aufwächst, wo man schon als Kind oder Jugendlicher Mechanismen und Strategien lernt um zurechtzukommen. Das ist ein Mehrwert für alle Beteiligten, für Lehrende und für hörende SchülerInnen. Klassen, in denen auch geschaut werden muss, dass alle mitkommen, haben generell mehr Aufmerksamkeit für die Kinder vermittelt. 

Musik

Freak-Sprecherin: Nur die Volks- und Hauptschule für gehörlose und schwerhörige Kinder in Salzburg bekennt sich klar zur Gebärdensprache und positioniert sich als bilinguale Schule. Alle anderen sind stärker lautsprachlich orientiert und definieren sich nicht so eindeutig. Warum in Österreich Gebärdensprache kaum im Unterricht verwendet wird, ist auf drei Umstände zurückzuführen.

Verena Krausneker: Das eine ist, der Lehrplan schreibt es nicht vor und gibt auch keine Information darüber, wie man in ÖGS oder bilingual unterrichten kann. Die Philosophien der Schulen sind sehr zurückhaltend.

Das zweite ist, dass es die Zusammensetzung der Klassen den Lehrenden zum Teil nicht erlaubt. Überall dort, wo die Klassen inhomogen sind, das heißt Kinder sind, die  deutsch gut verstehen und andererseits Kinder, die besser in ÖGS unterrichtet werden sollten, müssten sich LehrerInnen quasi zweiteilen. Wir haben oft erlebt, dass LehrerInnen sagen: „Würde ich gerne, aber was mache ich dann mit der anderen Gruppe?“

In solchen Situationen liegt es einzig daran, die durchaus gebärdensprachkompetente Lehrerin mit einer Zweitlehrerin auszustatten und Teamteaching zuzulassen, Teamteaching zu ermöglichen und somit den vorhandenen Sprachgruppen und allen Kindern in der Klasse das bieten zu können, was sie brauchen. Das dritte ist die fehlende Sprachkompetenz der Lehrenden.

Freak-Sprecherin: Vor allem das Thema Schulunterricht für gehörlose und hörbehinderte Kinder ist in der Gehörlosen-Community sehr emotional besetzt. In der Podiumsdiskussion gab es eine Vielzahl an Statements, in denen sich große Unzufriedenheit und schlechte Erfahrungen widerspiegelten.

Frau aus dem Publikum: Meiner Meinung nach muss die Politik schon auch sagen: Das ist mein Zuständigkeitsbereich und ich muss mich darum kümmern. Wir sind doch die Betroffenen! Meine Schulzeit war wirklich eine sch… Zeit muss ich sagen und ich hoffe wirklich sehr, dass sich das nicht auf die nächste Generation überträgt.

Mann ausdem Publikum: Trotz Anerkennung der Gebärdensprache habe ich nicht das Gefühl, dass hier eine Gleichbehandlung stattfindet. Ich habe das Gefühl, dass ich als Gehörloser durch dieses Bildungssystem diskriminiert werde.

Freak-Sprecherin: Auch am beschränkten Ausbildungsangebot von Gebärdensprache für Lehrerinnen und Lehrer an Gehörlosenschulen wurde Kritik geübt.

Frau aus dem Publikum: Ich kann es kaum glauben, dass Lehrerinnen und Lehrer an Gehörlosenschulen unterrichten und diese Sprache nicht schon im Vorhinein lernen müssen. Ich verstehe nicht, dass das nicht verpflichtend ist. [Applaus]

Das ist ein bisschen so, als würde ich nach Japan gehen und würde dann berufsbegleitend Japanisch lernen und würde dort in einer Schule unterrichten müssen. Wir in Hamburg haben es so getrennt, dass es einmal die universitäre Ausbildung gibt und dann das Referendariat, die praktische Ausbildung. In dieser universitären Ausbildung sind zwei Kurse etabliert.

Ich selbst hatte jetzt eine Referendarin, die diese zwei Kurse absolviert hat und Sachunterricht unterrichten sollte. Sie kam dann und wusste noch nicht einmal die Gebärden für Bruder, Mama, Auto, Papa, Ball und sollte den Wasserkreislauf, Wassermoleküle, Wasserdichte unterrichten. Man kann sich ja vorstellen, auf welchem Niveau das Ganze dann abgelaufen ist. Wir sprechen hier auch darüber, dass das Bildungsniveau in den Gehörlosenschulen wieder ansteigen soll und da frage ich mich natürlich wie das funktionieren soll, wenn es über berufsbegleitende Maßnahmen geschieht.

Freak-Sprecherin: Ministerialrätin Mag. Lucie Bauer vom Unterrichtsministerium hat sich den Fragen der Anwesenden gestellt. Die Grundlagen der Gebärdensprache sind bisher im Rahmen einer Ausbildung für GehörlosenlehrerInnen vermittelt worden. Diese hat bisher berufsbegleitend stattgefunden und sich aus 30 Unterrichtseinheiten zusammengesetzt. Ob sich hier etwas ändern wird sei noch nicht bekannt, da der neue Lehrplan noch nicht fertig gestellt sei. Lehrerinnen und Lehrer aber vollständig mit Gebärdensprachkompetenzen auszurüsten werde nicht möglich sein. Dies seien Maßnahmen, die in der Lehrerfortbildung geschehen müssen. Luie Bauer zu den Möglichkeiten eines neuen Lehrplans:

Lucie Bauer: Eine Unterrichtsorganisation kann nie durch einen Lehrplan geregelt werden. Die Möglichkeit bilingual zu unterrichten besteht  jetzt schon. Wie die Studie gezeigt hat gibt es auch bilingualen Unterricht in einigen Klassen. Der Lehrplan kann nur die Voraussetzungen schaffen. Bei entsprechender Unterrichtsorganisation, und wenn genügend Schülerinnen und Schüler vorhanden sind, die diesen Unterricht in Anspruch nehmen wollen, besteht diese Möglichkeit dann auch. Wir können aber in einen Lehrplan nicht hineinschreiben, dass bilingualer Unterricht stattfinden soll. Das lässt einfach die Lehrplansystematik nicht zu.

Freak-Sprecherin: Was den neuen Lehrplan betrifft seien Beiträge und Vorschläge von Interessierten nach wie vor willkommen.

Lucie Bauer: Wir wollen und können es natürlich nicht dabei bewenden lassen, dass der Lehrplan jetzt einfach verordnet wird. Selbstverständlich werden wir dazu auch Begleitmaßnahmen setzen. Eine dieser Maßnahmen wird sein, dass wir uns auch für die verschiedenen Bereiche die Unterrichtsmaterialien anschauen und feststellen, wo Unterrichtsmaterialien fehlen. Das gilt auch für den Bereich Gebärdensprache, für den es   meines Wissens nach noch sehr wenig gibt. Ich lade Interessierte ein daran mitzuwirken.

Freak-Sprecherin: Auch Dieter Brosz, Bildungssprecher der Grünen, war bei der Kundgebung am Wiener Minoritenplatz anwesend. Um Verbesserungen im Bildungswesen für gehörlose und hörbehinderte Personen zu erreichen, ist es ihm wichtig, auf parlamentarischer Ebene aktiv zu werden und Kommunikation zwischen Betroffenen und Abgeordneten zu ermöglichen.

Dieter Brosz: Es gibt im Parlament einen Unterausschuss des Unterrichtsausschusses. Dort wird über Schulreform diskutiert und es gibt da immer Expertendiskussionen zu verschiedenen Themengebieten. Der große Überbegriff "Integration" wird auch Thema sein.

Das wäre eine gute Gelegenheit, jemanden von euch als Experten oder Expertin zu nominieren. So wird das Thema einfach auch für die Abgeordneten präsent. Mein Eindruck ist, dass das bei vielen noch nicht im Bewusstsein verankert ist und es möglicherweise nicht immer nur am Willen sondern oft am Wissen scheitert.

Musik

Freak-Sprecherin: Auch wenn die Universität Wien die gehörlosen Studierenden als Gruppe bereits wahrgenommen hat und Aktionen gesetzt hat, beispielsweise mit Videoeinblendungen mit ÖGS auf der Homepage, gibt es noch Reformbedarf. So ist eine Erweiterung des Dolmetschbudgets notwendig, damit gehörlose Studierende 100%igen Zugang zum Universitätsangebot haben können und Informations- und Wissensaustausch möglich ist.

Ebenso gibt es Reformbedarf im Schulbereich. Bilingualer Unterricht und gebärdensprachkompetente Lehrerinnen und Lehrer sind zentrale Forderungen. Weiters bedarf es einer Änderung der Einstellung gegenüber gehörlosen und schwerhörigen Menschen. Katharina Schalber über ihre Wünsche für die Zukunft:

Katharina Schalber: Das wichtigste, glaube ich, ist doch ein Umdenken. Gehörlose sind nicht nur behindert, sondern auch eine Sprachminderheit. Die österreichische Gebärdensprache (ÖGS) seit 2005 in der Verfassung anerkannt. Das muss dementsprechend umgesetzt werden. Ich wünsche mir, dass Gehörlose ein Recht auf eine Sprache haben und zwar auf eine altersgemäße, also auf einen altersgemäßen Spracherwerb. Das kann in dem Fall nur eine Gebärdensprache und keine Lautsprache sein.

Ich wünsche mir, dass dann auch im Schulbereich weiter daran gearbeitet wird, dass Gehörlose die Möglichkeit haben die gleiche Bildung wie hörende Kolleginnen und Kollegen zu bekommen. Und danach natürlich auch die gleichen Chancen im Beruf. Es geht darum, die Möglichkeit zu haben den Beruf auszuüben, den sie wollen.

Musik

Freak-Moderator: Nächste Woche hören Sie den zweiten Teil des Freak-Bildungsschwerpunktes: Studienkarrieren ohne Barrieren, eine Aufzeichnung aus dem RadioKulturCafé.


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