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Über alle Grenzen: das zweite Leben des Jean-Yves le Meur
Jean-Yves le Meur ist Informationsingenieur am CERN in Genf. In seiner Freizeit fährt er Ski und Kajak und geht in die Berge. Seine Höchstleistung war die Besteigung des Mont Blanc – einbeinig und auf Krücken.
Jean-Yves hat den Gipfel erreicht. Er ist auf dem Mont Blanc, dem höchsten Berg Europas. Gemeinsam mit zwei Bergführern, seiner Partnerin, seinem Bruder und einem Freund sitzt er im Schnee, erschöpft und glücklich. „Je suis ému“ – ich bin gerührt – sagt er in die Kamera des Freundes, der ihn filmt, und wischt sich mit den Händen über seine Augen.
Da tauchen zwei andere Bergsteiger auf. Er hat schon von ihnen gehört, er weiß, was sie vorhatten: den Gipfel über eine extrem schwierige Wand zu erreichen. Sie haben es also tatsächlich geschafft. Er steht auf, um ihnen zu gratulieren. Die beiden Kletterer starren ihn entgeistert an. Jean-Yves kommt ihnen entgegen: auf zwei Krücken und mit nur einem Bein. Auch der Fuß des einen Beins ist aus Kunststoff geformt. Da stehen sie, die drei, und sagen, das sei ja unmöglich, was der jeweils andere geschafft habe. „Das war schon ein starker Moment“, sagt Jean-Yves le Meur. „Ich bewunderte sie. Und sie bewunderten mich. Sie dachten, dass es schlicht unmöglich wäre, mit nur einem Bein den Mont Blanc zu bezwingen.“
Der Sportler
An die Grenzen des Möglichen gehen und diese Grenzen immer wieder zu verschieben. Das praktiziert der 40-jährige Jean-Yves le Meur nun schon ein halbes Leben lang. Seit er sein zweites Leben begann. Mit 19 verlor er bei einem Unfall sein rechtes Bein und seinen linken Fuß. Auch vorher war er schon sportlich, doch seit seiner Verletzung hat er noch zugelegt. Er hat Skifahren gelernt und praktiziert es auf Wettkampfniveau. Er nimmt regelmäßig an Weltcuprennen und nun an den Paralympischen Spielen in Vancouver teil und wurde mehrmals französischer Slalommeister. Er geht Kajakfahren und schwimmen. Er macht lange Bergwanderungen. Der Mont Blanc ist der Gipfel seiner bisherigen persönlichen Herausforderung.
Wann er denn den Ehrgeiz entwickelt habe, auf den Mont Blanc zu steigen? „Oooh, puhhh“, ist seine erste Reaktion. In mehr Worte gekleidet heißt das: „Ja, sicher, man kann es Ehrgeiz nennen. Aber ich habe es nie als Ehrgeiz, als Herausforderung gesehen.“
Vielmehr sei es die natürliche Fortsetzung dessen gewesen, was er ohnehin schon lange machte: in die Berge zu gehen. Es war wichtig für seine persönliche Suche. Aber nicht nur das. Der Anblick eines einbeinigen Bergsteigers sei auch für viele andere Menschen hilfreich, Behinderte wie Nichtbehinderte. „Für alle Leute, die einen Unfall hatten und ihr Leben neu organisieren müssen, ist es gut zu sehen, dass man auch mit einer Behinderung wieder gehen kann, oder Skifahren und selbst Bergsteigen. Anfangs ist es sehr hart, sich neu zu orientieren, aber das Leben geht weiter. Man muss das Beste daraus machen.“
Der Dokumentenordner
Auch im Beruf verschiebt Jean-Yves le Meur die Grenzen des bisher Möglichen. Das liegt an seiner Arbeitsstätte. Er ist Informationsingenieur am CERN in Genf – jenem Ort, wo Physiker und Physikerinnen aus aller Welt die Ursprünge des Universums erforschen. Le Meur arbeitet in der digitalen Bibliothek des CERN. Dort wurde in den Jahren 1989 bis 1991 das World Wide Web entwickelt. Die ursprüngliche Idee dahinter war, den Wissenschaftlern, die am CERN und an Universitäten und Forschungsinstituten auf der ganzen Welt arbeiten, zu ermöglichen, schnell und einfach Dokumente und Daten auszutauschen. Le Meur hat die Anfänge des Web selbst hautnah erlebt – er hat einen der ersten hundert Webserver aufgesetzt. Er hatte in Paris und Oxford Informatik studiert, war einen Sommer lang als Sommerstudent am CERN, war hingerissen und kam nach Abschluss des Studiums zurück. „Es ist in jeder Hinsicht faszinierend hier. Das betrifft sämtliche Bereiche, von der Physik bis zur Informatik. Man hat immer den Eindruck, dem Rest der Welt um mehrere Jahre voraus zu sein.“
Auch Jean-Yves le Meur hat einen kleinen Meilenstein mitentwickelt. Er leitet ein Team in der Dokumentationsabteilung, das für die Verwaltung aller Dokumente – wie Artikel in Fachzeitschriften und Büchern, Notizen der Wissenschaftler, Fotos und Videos – und für die Entwicklung von IT-Werkzeugen zu dieser Verwaltung zuständig ist. Das Team entwickelte eine Software, der es den Namen „Invenio“ („ich finde“ in Latein) gab. Gemäß den Prinzipien des CERN steht die Software allen Personen und Institutionen gratis zur Verfügung, und viele Universitäten weltweit, von Hongkong bis Ruanda, und auch die NASA in den USA, haben sie bereits für ihre Zwecke adaptiert.
Seine persönliche Philosophie, die er in der schmerzhaften Zeit nach seinem Unfall entwickelt hat, könnte genauso gut für die Philosophie des gewagten wissenschaftlichen Unterfangens am CERN stehen. „Die Grenzen sind nicht im Vorhinein fixiert. Natürlich gibt es auch Dinge, die unmöglich sind. Sicher gibt es Grenzen. Aber man weiß nie genau, wo sie liegen. Und man kann immer versuchen, noch ein bisschen weiter zu gehen.“
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projektes "Lebens- und Arbeitswelten" erschienen.