Inhalt:
.Von Heilern, Vätern und Falschen Fünzigern...
Die Autorin Eva Blum (=Eva Mazzolini) stellt in dieser Sendung ihr gleichnamiges Buch vor und liest aus ausgewählten Textpassagen. Im Gespräch mit Gerhard Wagner erzählt sie über die Motive, dieses Buch zu schreiben, über Phänomene, die sie in ihrem Buch verarbeitet hat, von Hoffnung, Missbrauch, der Suche nach dem Vater und der Auseinandersetzung mit dessen Nazi-Vergangenheit und über die Möglichkeiten, die Kreativität eröffnen kann.
Freak-Radio-Moderator, Gerhard Wagner: Von Heilern, Vätern und falschen Fünzigern. Das ist der Titel eines neuen Buches, um das es in der heutigen Sendung gehen wird. Willkommen bei Freak-Radio, sagt Ihnen Gerhard Wagner.
Mir gegenüber im ORF-KulturCafe sitzt Frau Eva Mazzolini oder auch Eva Blum, wie sie als Buchautorin heißt. Sie haben ein neues Buch geschrieben, dessen Titel wir jetzt gerade erwähnt haben und es geht außer um Heiler, Väter und falsche Fünfziger auch um eine Frau, die Heilserwartungen hat und die auch Psychose hat.
Eva Blum-Mazzolini: Ja ganz richtig. Der unmittelbare Anlass war der Selbstmord einer Klientin - ich bin Psychotherapeutin - die sexuellen Missbrauch durch den Vater hatte. Und es gibt Selbstmorde, von denen man von vornherein weiß: Die kann man nicht verhindern!
Die sind nicht rein appelativ, sondern es wird immer wieder versucht. Und in dem Fall habe ich wirklich um das Leben dieser Frau gekämpft. Sie hat die Therapie mit mir abgebrochen und dann wirklich den Selbstmord so gestaltet, dass sie niemand finden konnte.
Das war der eine Grund, der aktuelle Anlass. Und der zweite war der, dass ich seit meinem Unfall durch meine Querschnittlähmung, wo ich absolut tödliche Verletzungen hatte, die Gewissheit habe für mich (das gilt für mich), dass ich in meinem Leben Aufträge habe, die ich erfüllen muss und dieses Buch war so ein Auftrag! Denn ich habe über zwei Jahre daran gearbeitet und es war wirklich sehr anstrengend, dieses Buch zu schreiben.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Wir werden uns jetzt noch sehr intensiv mit diesem Buch beschäftigen. Sie werden auch Texte lesen und wir werden über diese Texte danach sprechen.
Ich möchte an dieser Stelle nur einen kurzen Programmhinweis sagen: Wir hätten eigentlich heute über eine Sendung über Tsunami bringen wollen mit dem Herrn Peter Riefenthaler. Der hat aber gestern abgesagt - er liegt mit über 39 Grad Fieber im Bett und kann nicht kommen. Vielleicht holen wir diese Sendung zu einem späteren Zeitpunkt nach.
Umso mehr danke ich Frau Mazzolini, dass sie sich spontan bereiterklärt hat, heute schon zu kommen, denn wir wollten die Sendung etwas später machen. Ich freue mich sehr, dass sie heute da sind.
Ich würde vielleicht vorschlagen, wenn Sie wollen, dass Sie jetzt vielleicht den ersten Text lesen und dann ein bisschen Musik hören und dann nachher drüber reden...
Eva Blum-Mazzolini: Ja, sehr gerne. Ich möchte nur dazu erklären, der Roman beginnt mit dem Trauma, mit dem sexuellen Missbrauch des Kindes. Das Kind sucht Hilfe bei dem Vater, das kleine Kind fährt ganz alleine in die Fabrik des Vaters. Und der Vater hat Arbeit und keine Zeit. Von diesem Zeitpunkt an beginnt das Kind zu verstummen. Und erst jetzt als Erwachsene beginnt sie ihre Wurzeln zu suchen. Sie sucht den Vater in der ganzen Welt und bricht ihr Schweigen, indem sie Briefe an den Vater schreibt. Und da möchte ich mit diesem ersten Brief beginnen:
»Venedig. Lieber Vater!
Das Flammen der Abendröte spiegelte zuckende Gnome an die verwitterten Hausmauern. Ihre springenden Umrisse gebar die Erinnerung an mein Lieblingsmärchen Rumpelstilzchen. Ach wie gut, dass niemand weiß, wer ich bin, kam mir unvermutet in den Sinn! Hast du eigentlich eine Ahnung davon gehabt, mein Vater, wie oft ich in meinem Leben nicht erkannt werden wollte! Weil ich mich nicht zu dir bekennen konnte, weil ich mich deinethalben schämte. Schminke auflegen, erdnussbraunes Make-up in die Haut massieren, ein sanftes Streicheln, mit Puder eine bronzene Patina auflegen, bis die Wangen wie goldene Sonnen erglänzen, der rosafarbene Lidschatten reicht hin bis zum Brauenbogen. Dieser ist ein begrenzendes Schwarz, glutvolle Lippen kopiert von Andy Warhols Marilyn, sie täuschen ein Verlangen vor, das es nur in der Phantasie gibt, befächert von weißblondem Haar mit dem Auflodern des Windes. Dazu ein schwarzes Kleid, das jeden Schritt wie das Gleiten der Gondeln erscheinen lässt, eingebettet in strömendes Patschuli. O sole mio, Begierden anstacheln, den Karneval eröffnen, sich dem trunkenen Leben hingeben wie eine Braut. Alte Paläste werfen ihr Ebenbild, zitternde Schatten im sterbenden Wasser, Männer und Frauen, aus den Goldrahmen der Ahnengalerie entstiegen, tummeln sich auf dem Markusplatz und in den engen Gassen, Rokokogroteske, der Tanz der Vampire, der Geruch der Verwesung kommt vom Canale Grande.
Schon der erste Schrei ist zum Verstummen verdammt. Aber noch lebt die Nacht, noch ist die Lerche nicht erwacht! Vollbrüstige Kokotten winken mit dem Fächer, geben sich ein Stelldichein mit maskierten Galanen, Schmeicheleien wie ein Brunftgeschrei, ein Hinsinken, ein sich Hingeben im wiederkehrenden Spiel der Geschlechter. Doch es ist nur eine Rolle! Zwar demaskiert noch kein Tag die Nacht, aber sobald es dämmert, verflüchtigt sich die Meute und es wird still. Nun liegt die Stadt in Agonie. Leergetrunkene Flaschen, stumme Zeugen der Vergangenheit, zerbrochen in tausende Scherben, scharfe Splitter, die ins Herz dringen. Manche Maske liegt vergessen auf der Straße, fallengelassen in einem hechelnden Atemzug.
Rettungssirenen, Blaulicht haben ihn und die Seinen auf seiner letzten Reise begleitet, dorthin wo kein Platz mehr ist für Verstellung und sämtliche Tabus gebrochen sind. Ich wollte nicht warten bis mein Tod die Maskerade beendet! Ingeborg Bachmann sagte: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar." Dieser Ausspruch wurde mir zur Maxime! Ich will der Realität ins Auge sehen, den schmerzhaften Blick des Erkennens spüren, statt mit einer zur Hochzeit geschmückten Barke zwischen den Häuserzeilen und in der Verborgenheit der Brücken dem Wahnsinn zustrebend, mit dem Meer zu verschmelzen.«
Musik (Concerto Grosso von Arcangelo Corelli)
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Sie hören Freak-Radio auf Mittelwelle 1476. Die heutige Sendung heißt: Von Heilern, Vätern und falschen Fünzigern. Wir haben jetzt die erste Textpassage von Frau Mazzolini, oder von Frau Blum, wie sie als Autorin heißen, gehört. Und ich hätte zu diesen Texten ein paar Fragen.
Ein Satz, der mir jetzt ganz besonders aufgestoßen ist, ist: »Ach wie gut, dass niemand weiß, wer ich bin.«
»Ach wie gut, dass niemand weiß, wer ich bin«: Das ist doch eigentlich ein großes Problem, wenn man nicht haben möchte, dass die Leute wissen, vielleicht auch selber nicht haben möchte, zu wissen wer man selbst ist.
Eva Blum-Mazzolini: Also, das ist eine ganz wichtige Sache, die sie jetzt ansprechen, nämlich die Verdrängung, die mit einem sexuellen Missbrauch verbunden ist. Diese Frau und auch viele, die einen sexuellen Missbrauch erlebt hatten, wissen oft jahrelang nicht, dass sie den hatten, bis die Erinnerung kommt. Oder auch, wenn sie in Therapie gehen, dann taucht erst diese Erinnerung daran auf. Und man will sich nicht daran erinnern. Der Widerstand ist so groß. Man möchte sich nicht mit dieser eigenen Geschichte konfrontieren.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Können solche Dinge prinzipiell ... ich frage da fast zu Ende hin ...Aber kann man da etwas tun, wenn man das weiß. Ist es möglich, daran heranzukommen, oder wie kann man an das herankommen?
Eva Blum-Mazzolini: Also ich denke, wenn der Leidensdruck sehr groß wird, dann sucht man Heilung. Dann sucht man oft auch, gerade bei psychotischen Menschen, Heilung bei Gott. Und man sucht Heilungen in Beziehungen mit Männern. Man sucht überall Heilung, jetzt nicht nur Ärzte, Therapeuten, was auch in dem Buch beschrieben ist, die Psychotherapie, die Ärzte und der Steinhof (= Wiener psychiatrisches Krankenhaus, Red.) sondern man begibt sich wirklich auf die Suche - und es ist schon viel, wenn man nicht Heilung erreicht, dass man damit leben lernt oder damit umgehen kann, mit dieser Krankheit.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Also das heißt, ein ganz wichtiger Punkt ist, dass man weiß, wie die Mechanismen funktionieren, und dass man ein bisschen mehr Autonomie bekommt, wie man damit umgehen kann.
Eva Blum-Mazzolini: Ja, und sicher ist: Ich als Psychotherapeutin sage natürlich »Jedes wahre zweite Erleben ist die Befreiung vom ersten!« als Psychodramatikerin, wie Moreno schon sagte und auch Santayana. Aber es ist so, dass ein sexueller Missbrauch eigentlich dem Symptom eines KZ-Überlebenden gleichkommt. Und der Heilungsdruck ist so groß, dass man auf jeden Fall Heilung sucht, man kann gar nicht anders! Und es wiederholen sich ja auch die Muster.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Das ist ja auch etwas ganz Wichtiges!
Eva Blum-Mazzolini: Man ist eigentlich wie in einem Gefängnis: Das ist gespeichert, die Erinnerung: Man erfährt immer wieder Missbrauch, bis man dann eigentlich draufkommt.
Und das geht eigentlich nur über Psychotherapie. Also ich zeige die Grenzen aller anderen Heilungen auf.
Es gibt sicher Spontanremissionen und Heilungen, die ich auch beschreibe - unerklärliche Heilungen. Aber im Bereich der Psyche stößt man auch als Therapeut an seine Grenzen.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Jetzt eine provokante Frage, vor allem auch mit dem heutigen System: Psychotherapie bei Psychosen?
Ich glaube, dass heute noch sehr, sehr viel - vielleicht ist das auch notwendig - die Psychose mit der Psychiatrie, mit Medikamentationen, mit Ruhigstellen zu tun hat,...
Eva Blum-Mazzolini: Da möchte ich schon sagen, es ist leider Gottes so und diese Erkenntnis habe ich gewinnen müssen, dass gerade im Bereich der Psychosen eine medikamentöse Therapie äußerst wichtig ist.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Also man braucht beides.
Eva Blum-Mazzolini: Ja man braucht unbedingt beides. Man soll sicher alles versuchen, keine Frage, aber ohne - leider gibt es noch keine Heilungen in dem Bereich.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Das heißt...
Eva Blum-Mazzolini: ...obwohl dann eine Psychose auftreten kann und die kann dann wieder remittieren. Also, es kann dann wieder sein, dass man nicht psychotisch ist. Solche Fälle gibt es auch: Dass durch irtgendwelche Ursachen, durch irgendetwas eine Psychose auftritt. Zum Beispiel durch Kortison kann Psychose auftreten.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Das heißt, so wie man den Umgang lernt, mit diesem Problem umzugehen, so gehört das auch mithin zum Repertoire, dass man dann weiß: So, wenn ich wieder etwas spüre, dann kann ich auch ein Medikament...
Eva Blum-Mazzolini: Also es ist heute in der Psychiatrie sicher so und bei Psychiatern, dass man schaut, dass man die Medikamente wieder so rasch als möglich reduziert, soweit dies möglich ist. Denn niemand von den Patienten nimmt gerne diese Medikamente, weil es Nebenwirkungen gibt. Leider gibt es das auch.
Es ist für uns alle unglücklich, dass es noch nichts besseres gibt, aber wir sind halt alle auf diesem Stand der Dinge.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Kommen wir wieder ein bisschen zurück zu dieser Passage, die sie vorgelesen haben. Da war ja ein ganz zentraler Punkt die Suche nach dem Vater. Die Suche nach der Anerkennung, vielleicht auch nach der Liebe des Vaters, jedenfalls ist es eine Suche nach dem Vater...
Eva Blum-Mazzolini: Ja, es ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Vater, vor allem auch dem Faschismus des Vaters. Und auch da die Scham und Schande darüber, dass der Vater eigentlich ein Nazi war, und dann nicht losgelassen hat.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Also in diesem Roman ist der Vater ein Nazi gewesen und die Frau, die Protagonistin muss sich damit auch noch auseinandersetzen.
Eva Blum-Mazzolini: Ja genau.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Und wie tut sie das?
Eva Blum-Mazzolini: Ja indem sie versucht, indem sie das ausspricht und sich mit ihm auseinandersetzt und sich auch mit Gott auseinandersetzt und auch mit dem Fundalismus der charismatischen Christen auseinandersetzt, der zum Teil auch faschistisch ist: Wenn zum Beispiel gegen Homosexuelle wirklich ein Pastor einer christlich-charismatischen Gemeinde sagt: »Und in einem afrikanischen Staat hat ein Präsident die Todesstrafe für homosexuelle Menschen wieder eingeführt - und alle klatschen! Und da frage ich mich schon: Haben die Leute überhaupt hingehört? Ist ihnen klar, als Christen, was das heißt, wenn man für die Todesstrafe ist?
Nicht? Das sieht man ja auch: In Amerika... also die psychotische Frau kommt auch nach Amerika zum Benny Hill, zu einem bekannten, wo auch sehr viele Heilungen stattfinden, wo es auch Videos gibt, wo die Leute zuhauf aus dem Rollstuhl aussteigen, nimmt auch ihre behinderte Freundin mit und erhofft sich auch für sie Heilung - und es ist eine kritische Auseinandersetzung auch mit esoterischen Strömungen, mit Heilpraktikern, mit allen möglichen Heilern, die viel versprechen...
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Also sie sucht einerseits nach Heilung, andererseits haben sie das ja gerade zitiert, das Bachmann-Zitat »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar«, also auch die Konfrontation mit der Wahrheit oder den Dingen auf den Grund gehen.
Eva Blum-Mazzolini: Genau.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Und dann erkennt sie oft auch, dass das, was aussieht wie Heilung, aber auch ganz andere Mechanismen haben kann...
Eva Blum-Mazzolini: Kann! Es kann alles pervertieren! Was man ja auch sieht bei den Terroristen, wie die den Koran auslegen! Und es gibt genauso den Fundamentalismus bei Christen!
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Also man kann das Gute, das Heilende auch missbrauchen.
Eva Blum-Mazzolini: Es gibt Spontanheilungen von unheilbaren Krankheiten, das gibt es auch, das habe ich auch beschrieben, das kann man nicht wegleugnen. Es gibt auch Spontanremissionen in der Medizin. Aber es gibt auch Grenzen!
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Wenn wir jetzt vielleicht ein paar Leuten Gusto gemacht haben auf dieses Buch, vielleicht schon jetzt der erste Hinweis, wir werden es am Schluss wiederholen. Wann und wie kann man dieses Buch erwerben?
Eva Blum-Mazzolini: Man kann es über den Buchhandel erwerben, man kann es bestellen...
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Gibt es das schon?
Eva Blum-Mazzolini: Ja es gibt es schon, es wird ab kommender Woche auch bei amazon.de zu erwerben sein, unter der ISBN-Nummer 390251834-0
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Und das heißt, ab Mitte Dezember ist das Buch im Handel. Heute ist der 7. Dezember 2005, weil wir am 25. Dezember die Ausstrahlung haben. Also wenn Sie das hören, dann ist dieses Buch bereits im Handel und sie können gerne über die Weihnachtstage dieses Buch zur Hand nehmen.
Eva Blum-Mazzolini: Vielleicht können Sie die ISBN-Nummer auch noch ins Internet stellen, das wäre nett.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Vielleicht könnten wir noch eine zweite Textprobe hören, wenn Sie möchten?
Eva Blum-Mazzolini: Das Ganze endet damit, das möchte ich nur kurz sagen, mit einem Fest am Steinhof. Es gibt immer ein Sommerfest am Steinhof, das werde ich jetzt nicht lesen, aber das ist das Ende. Und da sind auch Menschen festgehalten, die dort leben. Und es ist so die andere Art von Seitenblicken. Und jetzt lese ich einen Text von Steinhof.
»Lieber Vater! So wie ich dich stetig suche, verfolge, ja verbeiße ich mich auf der Suche nach Heilung.
Wie ich dir geschrieben habe, war ich wieder am Steinhof in Behandlung. Als es mir besser ging, besuchte ich öfter das Patientenkaffee. Es war in einem dieser vielen Pavillons im Erdgeschoß untergebracht. Ein Garten war dabei, mit eben den hohen, alten Bäumen, welche die einzelnen Pavillons zu einer Einheit verbinden, im Sommer lindernden Schatten spenden, im Winter unter der Last von Schnee zu einem verzauberten Wald erblühen. Bizzare Äste, weiß glitzernd im Wintergarten. Der Anflug, der aus ganz Wien heimkehrenden Krähen ist eine mit Rappen bespannte Kutsche, welcher befrackte Gäste entsteigen.
Eine aufgehende Sonne wirft ihren rosa Schleier darüber. Erstarrte Zweige im schmeichelnden Wind wie Salome zu tanzen, lassen im Tageslicht den frühmorgendlichen Schleier fallen, bekommen einen hellblauen Schimmer, um zu Mittag in einem Bolero zu erglühen. Schon kommt der Abend und überzieht sie mit einem tiefen Violett, bis sie sich in der schwarzen Nacht, im Totentanz, zu einem Reigen zusammenneigen.
Die Mondsichel erweckt sie aus ihrem Schlaf und zeigt ihre Blöße. Mit neuer Kraft durchschneidet der kommende Frühling eine harte Erdkruste und schneidert ein neues Kleid. Wie für einen Maskenball treiben zarte grüne Blätter aus, sprießen Primeln und Gänseblümchen, entzünden sich gelbe und rosa Kerzen zwischen gefiederten Blättern, reizt der Duft der Jasminstauden die zarten Nasenflügel.
Alles wird rundlich, nimmt zu. Wie ein Mädchen, das zur jungen Frau erblüht, entfaltet sich die Natur am Spiegelgrund.
Der Sommer zeigt die Sättigung dieser Ehe! Behagliche Laubdächer, in der ruhenden Hitze, beruhigen die schlichten Linien der Gebäude. Wie der Kopf eines Königs trohnt die Jugendstilkirche mit ihrer goldenen Kuppel über das Grün.
Beim Haupteingang, in Sichtweite des Portiers, steht das Verwaltungsgebäude mit der ärztlichen Direktion wie ein Fundament, dem kein Sturm etwas anhaben kann. Ein gerader Weg führt gleichsam wie die Wirbelsäule eines Körpers hinauf zu dem gekrönten Haupt. In der Magengegend steht das Jugendstiltheater und verdaut den Nachlass der psychisch kranken Kreativen, die ihren Ruhm mit unsäglichem Leid bezahlten, indem sie in ihren Gefühlen zu früh verbrannten.
Virginia Woolf und Edgar Allan Poe grüßen. Das Singen und Rufen erreicht die einzelnen Gebäude, die das restliche Gerippe von Steinhof bilden, wie in einer inneren Schau. Die Seele sind die Betreuer, die ihr halbes Leben mit den Ausgestoßenen verbringen, das Pflegepersonal und die Therapeuten, der Intellekt die Ärzte und klinischen Psychologen, die Gefühle die Patienten, deren ungehemmte Triebentfaltung zur Einweisung geführt hat.
Das Fleisch bildet die Natur, die nun im Herbst des Kalenderjahres in einer letzten, verfärbten und vergilbenden Pracht vergeht, um das weiße Skelett zurückzulassen. In der Herzgegend liegt das Kaffee der Pro Mente Infirmis. Im Grunde ein Beisl wie jedes andere, nur die Gäste sind zumeist skurriler.
Manche bewegten sich anders, manche sehen anders aus und manche, deren Äußeres sich von dem anderer Menschen nicht unterscheidet, riechen einfach anders als die Meute. Sie sitzen entweder in Gruppen zusammen, oder manche auch allein, manche starr und furchtsam vor sich hinblickend, so als würde ein unsichtbarer Feind sie verfolgen, als würden die Dämonen auf den Ästen der Bäume hocken wie große Vögel.«
Musik (Concerto Grosso von Arcangelo Corelli)
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Sie hören Freak-Radio auf Mittelwelle 1476. Zu Gast ist heute Eva Blum und hat ihr neues Buch oder stellt gerade ihr neues Buch vor. Wir haben schon zwei Textpassagen gehört und aus dem Publikum gibt es bereits eine Frage.
Publikumsfrage: Sie sind Psychotherapeutin und haben mit selbstmordgefährdeten Leuten zu tun. Wieweit färbt das eigentlich auch auf Ihre Person ab? Ich habe auch gehört, dass gerade unter Therapeuten auch die Selbstmordrate auch sehr hoch ist!
Eva Blum-Mazzolini: Da haben Sie vollkommen recht - auch unter Ärzten! Ich selbst war fünf Jahre schwer selbstmordgefährdet während meines Studiums und auch jetzt, wenn sich jemand umbringt, zu dem ich eine therapeutische Beziehung aufgebaut habe, lässt mich das absolut nicht kalt. Das hat mich vielleicht gerade zu diesem Beruf geführt.
Es gibt aber leider Selbstmorde. Ich habe nicht umsonst zwei Jahre an diesem Buch geschrieben.
Publikumsfrage: Ist so ein Buch dann mehr oder weniger eine Abreaktion solcher Dinge?
Eva Blum-Mazzolini: Nein! Das ist für mich ein Festhalten dieser Menschen! Ich schreibe, um diese Menschen - Moreno hat das Kulturkonserve genannt - um sie nicht vergessen zu lassen, und um Verständnis für diese Menschen zu bitten.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Ich hätte noch aus dieser Passage, die sie jetzt im zweiten Teil gelesen haben, sind mir wieder ein paar Sachen aufgefallen, die ich sie gerne fragen würde:
Diese Erwartungen an den Frühling, diese Erwartungen an ein Erwachen, die so schön beschrieben werden: Welche Funktion haben die oder was kann das auslösen oder wie ist es im Gesamten zu sehen?
Eva Blum-Mazzolini: Also das ist jetzt ... da möchte ich ein Beispiel bringen, und zwar habe ich einen Patienten, der selbstmordgefährdet war, und er hat sich ausgesucht das Märchen von Dornröschen als therapeutisches Spiel - also ich verwende Märchen - und da hat er zuerst das Dornröschen gespielt und sich dann als Ritter selbst wachgeküsst.
Und dieses Wachküssen, das war eigentlich die Befreiung! Er dann gesagt, ein späteres Gespräch mit Angehörigen und mit einer Ärztin war dieses Wachküssen, also einfach auch andere Wege sehen für sich selbst, andere Perspektiven, nicht mehr so eingeengt sein, nicht mehr festhalten an dem Alten, das vergangen ist - er hat seinen Job verloren gehabt - sondern neue Perspektiven finden und so aus dieser Selbstmordgefahr herauszukommen. Das ist ein wichtiger Punkt, das haben sie schön erkannt...
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Das führt mich gleich zur nächsten Perspektive, die da aufgeschrieben ist: Es ist ja sozusagen in diesem Fall die Kreativität, die einen Heilungsbeitrag leisten kann.
Wenn jemand etwas spielt, ein Märchen nachspielt, so neue Rollen findet. Sie beschreiben auch in dieser Passage, die sie gerade gelesen haben, dass das Theater auch eine wichtige Funktion hat, von vielen Leuten, die kreativ, die durch ihren Schmerz zu diesen Leistungen gedrängt worden sind. Welche Rolle spielt denn die Kreativität?
Eva Blum-Mazzolini: Also es gibt ja sehr bedeutende Künstler, die auch in der Psychiatrie landen. Es kann im Grunde niemand sagen, dass er nicht in der Psychiatrie landet, das wäre eine Verleugnung. Viele glauben nur, sie leben in einer heilen Welt und ihnen kann nix passieren. Und genetisch bedingt ist das für mich absolut nicht so!
Und gerade die Kreativen, also das kreative Potential dieser Menschen ist ja ganz gewaltig! Es wird ja auch genutzt in der Ergotherapie usw. Es hilft zwar, aber leider heilt es auch nicht. Es kann. Es gibt viele bedeutende Maler und die leiden halt dann trotzdem. Aber sie können es umsetzen. Die Kreativität, das ist... vielleicht muss man sich dann nicht umbringen, wenn man es durchspielt.
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Wir sind fast am Ende der Sendung. Ich wollte fragen: Wollen Sie noch einen Satz sagen, warum Ihnen dieses Buch so besonders wichtig ist?
Eva Blum-Mazzolini: Dieses Buch ist mir deshalb so besonders wichtig, weil die momentane gesellschaftliche Situation menschenverachtend ist seitens der Politik. Ich habe das auch angesprochen: Wo heute nicht nur Randgruppen von der Armut bedroht sind, sondern das kann heute einen jeden treffen! Das zeigt sich auch in diesem Buch: Dies Frau kommt aus einem italienischen, herkunftsmäßig italienischen Adelsfamilie und landet sozial ganz unten.
Diese Bewusstsein, dass das einem jeden passieren kann, ein jeder kann psychotisch werden, ein jeder kann in der Psychiatrie landen, ein jeder kann selbstmordgefährdet sein, und deshalb ist mir das so wichtig.
Auch, dass sich die Menschen nicht ausbeuten lassen von jemand, der ihnen Heil verspricht, ja, und es gibt ja auch Leute, die enorm ausgenommen werden. Es ist sicher für alle Leute, also auch für esoterische Menschen, die also auch da in diese Richtung suchen, es ist eigentlich alles behandelt: Es ist Exorzismus behandelt, es ist vieles behandelt...
Freak-Radio, Gerhard Wagner: Von Heilern, Vätern und falschen Fünfzigern. Von Eva Blum: Erschienen in der Edition Nove. Ich bedanke mich ganz herzlich für dieses Gespräch, verabschiede mich bei Ihnen zu unserer letzten Sendung in diesem Jahr und sage auf Wiederhören bei Freak-Radio.