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.Widersprüchliche Reaktionen der Wiener Gebietskrankenkasse
Die Vorgeschichte: Ein Wiener Rollstuhlfahrer erfährt, dass er mit seinem Rollstuhl jetzt nur noch mit 6 km/h unterwegs sein darf. In einer ersten Reaktion bezieht sich die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) zunächst auf das Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz (»soferne eine Geschwindigkeit von 10 km/h überschritten werden kann«). Außerdem führt man an, man fürchte, man könne für die Rollstühle haften.
Als gegen-argumentiert wurde, dass diese Bestimmung ja ohnehin mit einem höchstens 10 km/h schnell fahrenden Rollstuhl vereinbar wäre, wurde die Argumentation abermals geändert. Lesen Sie hier nach, wie die Gebietskrankenkasse die 6 km/h-Geschwindigkeitsbegrenzung nunmehr rechtfertigt.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie haben ein Auto: Sie wissen ja, auf Autobahnen in Österreich können Sie 130 km/h fahren, auf Landstraßen immerhin 100 km/h. Aber Ihr Auto geht ja in Wirklichkeit noch schneller, teilweise viel schneller. Doch das ist nur dann ein Problem, wenn Sie eine Gesetzesübertretung begehen. Für die Strafe sind natürlich Sie selbst verantwortlich.
Stellen Sie sich weiter vor, es gibt in Österreich eine Behörde, die plötzlich für die Höchstgeschwindigkeit der Autos zuständig ist: Und diese verfügt dann, dass Autos zwangsweise nicht mehr als 60 km/h fahren können dürfen.
So ähnlich verfährt die Wiener Gebietskrankenkassen mit Rollstuhlfahrern. Nach dem Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz darf ein Rollstuhl auf Gehwegen und in Fußgängerzonen auf jeden Fall bis zu 10 km/h schnell fahren.
Die Straßenverkehrsordnung legt nun ergänzend fest, dass dort in Schrittgeschwindigkeit gefahren werden soll.
Nun, als erstes Argument, ist das Fahren auf Gehweg, wie viele RohlstuhlbenutzerInnen aus leidvoller Erfahrung wissen, gar nicht immer möglich. Hohe Gehsteigkanten, unüberwindliche Barrieren, zu schmale Gehwege sind nur einige Gründe, auf Straßen fahren zu müssen. Auch auf anderen Wegen, wie etwa auf der Donauinsel, können sich Rollstuhlfahrer so schnell bewegen wie sie wollen und unterliegen keinerlei Einschränkung. Die Konzentration bloß auf Gehwege vernachlässigt also alle anderen Bereiche.
"Nicht das Maß des Notwendigen übersteigen"
Doch kehren wir zum Rollstuhlfahrer zurück, dem jetzt langsames Fahren beschieden wurde: Frau Zoufal von der Gebietskrankenkasse schreibt ihm: "Die durchschnittliche Gehgeschwindigkeit liegt bei Personen der Altersgruppe 20-60 Jahre um 5 km/h. Schnelles Gehen liegt bei 7 km/h und wird üblicherweise nur für kurze Strecken vorgenommen."
Nachsatz: "Der Rollstuhl muss ausreichend und zweckmäßig sein, darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht übersteigen."
Schon nach der Argumentation müsste der Rollstuhl schneller als 6 km/h fahren können, billigt Frau Zoufal dieser Altergruppe immerhin auch eine Gehgeschwindigkeit von 7 km/h zu. Warum dann dennoch nur 6 km/h? Und woher kommt die WGKK-Mitarbeiterin überhaupt zu dieser Zahl? Das wird nicht angeführt.
Nun gibt es Menschen, wie der Schreiber aus eigener Erfahrung weiß, deren Schrittgeschwindigkeit noch wesentlich höher ist. 8 Kilometer in der Stunde sind nicht selten, bei günstigen Umständen kommen einige, auch ohne zu laufen, nachweislich auf 10 km/h!
Und da ist noch keine Rede davon, dass Menschen ohne Behinderungen auch laufen können, Radfahren können, einen Tretroller benutzen können oder auch Skates - und somit eine breite Palette von Hilfsmittel zur Verfügung haben, sich schneller fort zu bewegen.
Ein Mensch mit Behinderung kann dies alles nicht. Ist sein Rollstuhl auf 6 km/h beschränkt, geht es niemals schneller. Doch die Argumente der WGKK-Bürokratin Frau Zoufal von der Gebietskrankenkasse, lassen auf Unkenntnis der persönlichen Lebenslage von Menschen mit Behinderungen schließen - und sind zudem nicht einmal stichhaltig, weil ihre eigene Argumentation (7 km/h) der Maßnahme (Beschränkung nur auf 6 km/h) widerspricht - ganz abgesehen von früheren Stellungnahmen der Wiener Gebietskrankenkasse, die sich auf 10 km/h bezogen haben.
Es widerspricht außerdem noch einer anderen Stellungnahme seitens der WGKK, nämlich dass es den Versicherten möglich werden solle, sich mit den gewährten Hilfsmitteln fortzubewegen, als ob kein Gebrechen vorliegen würde. Dies ist bei der 6 km/h-Verordnung eindeutig nicht der Fall!
Ebenso willkürlich, ja für viele Betroffene sogar zynisch wirkend, ist die Argumentation, dass ein Rollstuhl, der 10 km/h schnell fährt, "das Maß des Notwendigen" "übersteigen" würde. Frau Zoufal legt also fest, was notwendig ist, erklärt taxfrei alles andere zum Luxus und beschränkt so einschneidend die Lebensqualität von Rollstuhlfahrern - und das bringt nicht einmal Einsparungen, sondern kostet teilweise zusätzliches Geld, das die Krankenkasse bezahlen muss, weil manchmal die Geschwindigkeit aufwändig gedrosselt werden müsste.
Eine klassische Loose-Loose-Situation - erdacht von ursprünglich wahrscheinlich gutmeinenden Menschen, die sich aber bis jetzt von ihrer ursprünglichen Meinung durch nichts haben abbringen lassen.
Dies alles lässt folgenden Schluss zu:
Die Maßnahme der Reduktion auf 6 km/h war ein Schnell-Hüftschuss eines, einer oder von mehreren Schreibtischtätern. Sie verursacht nicht einmal geringere Kosten. Sie lässt sich nicht mit den Gesetzen und Verordnungen argumentieren, es sei denn man legt "Schrittgeschwindigkeit" willkürlich mit 6 km/h fest.
Die wechselnde Argumentation über die Gründe dieser Beschränkung lassen überdies annehmen, dass diese Argumente - und damit die Begründung der ganzen Maßnahme - erst im Nachhinein gesucht wurden.
Die Maßnahme wurde offenbar nicht mit behinderten Menschen und deren Selbstvertretungen abgesprochen, sondern einseitig, noch dazu mitten im Wiener Wahlkampf, doktriniert.
Und damit wäre es Zeit für einige Empfehlungen:
Solch seltsame Maßnahmen sind offenbar in Unkenntnis von den Lebensumständen behinderter Menschen getroffen worden: Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin sollten daher einige Möglichkeiten nutzen, sich im Rollstuhl oder mit verbundenen Augen fortzubewegen und die Umstände dessen, was man verordnet, einmal hautnah kennen zu lernen.
Freak-Radio bemüht sich bereits um solche Möglichkeiten für die Zukunft - nicht nur für MitarbeiterInnen der Wiener Gebietskrankenkasse wie Frau Zoufal.
Eine Behörde kann nicht einfach über die Köpfe der Betroffenen hinweg dekretieren, was für Rollstuhlfahrer gut ist. Immerhin leben wir in einer Demokratie und nicht mehr im Absolutismus. Seither haben sich eigentlich Begriffe wie "Eigenverantwortung", "Individualisierung" und vor allem "Selbstbestimmung" durchgesetzt.
Bei Menschen mit Behinderung tut man sich hier offenbar noch etwas schwer. Als Beweis möchte ich das Beispiel von Anfang anführen: Es wäre undenkbar, dass österreichweit die Geschwindigkeit von Autos auf 60 km/h gedrosselt wird.
Aber dass Wiener Rollstühle nicht schneller als 6 km/h fahren dürfen, soll weiter denkbar bleiben?