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.Zeig mir, was „Feilen“ heißt
Dinka Omerovic macht eine Elektroniklehre bei Siemens. Dort läuft seit 13 Jahren ein Programm zur Ausbildung gehörloser bzw. schwerhöriger MitarbeiterInnen. Auch Hörende profitieren.
Anfangs schaut Evita ihnen nur zu. Immer wieder. Neugierig. Und fasziniert. Bis ihr eines der drei Mädchen den Mittelfinger in die Höhe reckte. Sie solle wegschauen, sie gehe ihnen auf die Nerven. „Da habe ich ihnen mit Hilfe der Dolmetscherin gesagt, dass ich mich ja nicht über sie lustig mache. Sondern dass ich schön finde, wie sie reden. Ich wollte das auch können“, sagt Evita Stadler. Reden heißt in dem Fall: gebärden. Evita und die drei anderen Mädchen waren damals Elektroniklehrlinge im ersten Lehrjahr. Evita kann hören, die anderen Mädchen sind gehörlos und kommunizierten in Gebärdensprache. Längst ist nun Dinka, eines der drei Mädchen, eine enge Freundin Evitas geworden. Und Evita hat gebärden gelernt.
Rahmenbedingungen schaffen
Dinka Omerovic ist eine von neun gehörlosen oder schwerhörigen Jugendlichen, die jährlich bei Siemens Österreich eine Elektroniklehre beginnen. Seit 1996 hat Siemens eine integrative Lehrwerkstätte am Standort Siemensstraße in Wien und Angebote für Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf gehörlosen und schwerhörigen Jugendlichen, und das Angebot beschränkt sich auf eine Elektroniklehre, da es etwa bei gehörlosen Starkstromtechnikern Sicherheitsbedenken gäbe. Finanziert wird das Programm zur Gänze vom Bundessozialamt und dem AMS: Lehrlingsentschädigungen, Ausbildner und vier Gebärdensprachdolmetscherinnen, die die Lehrlinge am Arbeitsplatz und in der Berufsschule unterstützen. Die Leistung von Siemens in diesem Programm ist die Ausbildung der Lehrlinge in einer modernen Lehrwerkstätte, gemeinsam mit den anderen, hörenden Lehrlingen. Insgesamt haben 83 Lehrlinge im September 2009 eine Lehre bei Siemens Österreich begonnen.
Gisela Riepl ist eine der vier Gebärdensprachdolmetscherinnen bei Siemens. Sie hat gehörlose Eltern und deshalb die Gebärdensprache bereits als Kind gelernt. Wenn sie mit den Lehrlingen redet, tut sie beides: Sie spricht und sie übersetzt in Gebärdensprache. Riepl ist seit zehn Jahren dabei. In dieser Zeit hat sie selber viel dazu gelernt, wie die Ausbildung am besten zu gestalten ist. Ein Sprachlabor wurde angeschafft, und eine Logopädin kommt nun einmal pro Woche ab dem zweiten Lehrjahr. Eine besondere Herausforderung ist, die vielen technischen Begriffe – wie „anreißen“ oder „feilen“ – zu lernen und zu verstehen, in Deutsch, in Englisch und in einer Gebärde. Für viele Begriffe in der rasant voranschreitenden Technik müssen laufend neue Gebärden entwickelt werden. Auch das Lippenlesen ist für die gehörlosen künftigen Elektroniker und Elektronikerinnen wichtig. In der Welt da draußen, an ihren künftigen Arbeitsplätzen, ob bei Siemens oder in einem anderen Unternehmen, werden sich die meisten über Lippenlesen verständigen.
Eigentlich wollte Dinka Omerovic Fotografin werden. Ein Jahr lang suchte sie nach einer Lehrstelle. Sie fragte bei vielen Fotografen nach, sie bewarb sich auch als Keramikmalerin, als Zahntechnikerin, als Kellnerin. Eine Arbeitsassistentin des Wiener Gehörlosenverbands WITAF riet ihr zur Elektroniklehre bei Siemens.
Kristina Paunovic-Milanovic ist im ersten Lehrjahr. Bei ihr ging die Suche schnell. Sie hätte sogar eine andere Lehrstelle gefunden: als Maurerin. Das hätte ihr sehr gut gefallen, doch auf den Rat ihrer Eltern hin entschied sie sich für Siemens.
Peter Kluiber wiederum ist schon etwas älter. Er ging erst in eine Fachschule, machte dann die Matura im BIG, dem Bundesinstitut für Gehörlosenbildung. Dann suchte er lange und arbeitete immer wieder mal in Büros. Schließlich begann er die Schnupperlehre bei Siemens. „Es gefällt mir gut hier“, sagt er. „Hier gibt es eine sehr gute Integration mit den Hörenden – die gibt es woanders nicht.“
Erfahrung, Praxis und Integration
„Ich versuche, mit den Jugendlichen die Integration zu leben“, sagt der Lehrlingsausbildner Wilhelm Schmoll. „Ich erkläre etwas den Hörenden und sage ihnen, sie sollen es an die Gehörlosen weitergeben. Und natürlich auch umgekehrt. Ich erkläre etwas – mit Hilfe der Dolmetscherin – den Gehörlosen und sage ihnen, sie sollen das Gelernte nun den Hörenden vermitteln. Das fördert die fachliche Kommunikation, und so entstehen auch Freundschaften.“
Schmoll ist seit 41 Jahren im Unternehmen, 35 Jahre davon als Ausbildner. Für den Job in der integrativen Ausbildung hat er gute Voraussetzungen: Sein Vater war taub aus dem Krieg zurückgekommen. Wilhelm Schmoll musste seinem Vater alles aufschreiben, was gesagt werden sollte.
Die schon lange laufende Ausbildung – seit 13 Jahren – und die erfolgreiche Tätigkeit von gehörlosen Elektronikern und Elektronikerinnen bei Siemens macht wohl den nachhaltigen Erfolg des Programms aus. Immer wieder werden auch Gebärdensprachkurse für Hörende angeboten – für Kollegen und Leiter von Abteilungen, in denen die gehörlosen Elektroniker arbeiten. Doch eine erfolgreich bestandene Lehrabschlussprüfung ist längst keine Garantie mehr für einen Job bei Siemens. Derzeit werden rund die Hälfte der Lehrlinge von Siemens übernommen – das betrifft Hörende und Nicht-Hörende gleichermaßen. Einige gehörlose Elektroniker fanden Jobs bei Opel, bei Magna, im AKH, in Kfz-Werkstätten und in anderen Gewerbebetrieben. „Zwei unserer ehemaligen Lehrlinge, eine Frau und einen Mann, haben wir bis zur Meisterprüfung begleitet“, erzählt Gisela Riepl. Beide arbeiten nun beim Bundesheer.
Evita Stadler, die hörende Elektronikerin, weiß schon, dass sie nicht bei Siemens bleiben wird. Sie wird künftig mit ihrem Vater arbeiten, der ein Unternehmen für Sicherheitstechnik hat. „Und Dinka nehme ich mit“, sagt sie laut, und übersetzt es für ihre Freundin Dinka in Gebärden. „Ja, wenn der Papa das erlaubt, werde ich kommen“, antwortet Dinka.