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.Ohrenschmaus – Texte von Menschen mit Lernbehinderung
Ohrenschmaus heißt ein Literaturpreis in Österreich. Dabei geht es um Texte, die Menschen mit Lernbehinderung geschrieben haben. Die Idee hatte der Kinderbuchautor im Rollstuhl Dr. Franz Joseph Huainigg. Er ist auch als Politiker im Parlament tätig.
Am 9. Februar 2009 berichteten Florian Jung und Sandra Knopp von Freak-Radio von dieser besonderen Preisverleihung: Sie fand im Museumsquartier in Wien statt. Auch Unterrichtsministerin Claudia Schmied war bei der Preisverleihung. Sie wollte damit die Dichterinnen und Dichter mit Lern-Behinderung wertschätzen. Besonders erwähnte sie ein Gedicht, das nur einen Ehrenpreis bekam.
Hektik
von Arnold Kozak
Man nimmt sich was vor
es gelingt nicht
Hektik
Man kauft ein
das Geld ist zu wenig
Hektik
Man ist froher Dinge
erfährt etwas Ernstes
Hektik
Es ist ein Ausflug geplant
es schüttet
Hektik
Es wird etwas gesucht
es lässt sich nicht finden
Hektik
Es ist eine flotte Wanderung
man landet im Sumpf
Hektik
Es wird gegessen
man patzt sich an
Hektik
Man bastelt
es wird defekt
Hektik
Es läuft das Fernsehprogramm
Bildausfall
Hektik
Man braucht Trost
es kommt Stress
Hektik
Man will liebenswürdig sein
es kommt Brutalität
Hektik
Man träumt
die Wirklichkeit ist ernst
Hektik
Auch der Ministerin Schmied ist Hektik und Stress durchaus vertraut. Denn sie hat als Politikerin viel zu tun. Damit bleibt ihr kaum Zeit zum Lesen. Sie sagt: Dieser Text hat ihr besonders gut gefallen, das konnte sie sehr gut nachvollziehen.
Kunst von behinderten Menschen
Michael Landau von der Caritas Wien spricht von verborgenen Talenten. In der Gesellschaft wird diese Kunst aber noch nicht genug wahrgenommen. Er sagt: Es ist gut, wenn es Raum für Kunst gibt - vor allem von Menschen, die schnell als behindert abgetan werden. Menschen mit Behinderungen müssen in der Gesellschaft präsent sein! Und zwar mit dem, was sie können und nicht nur mit ihren Behinderungen.
Den Wiener Caritas-Direktor Michael Landau stört auch, dass Menschen mit Lernbehinderungen zuerst immer bemitleidet werden. Er sagt, dass sie zuerst gleiche Rechte brauchen. Und dass man ihre Leistungen sieht. Die werden noch immer zu wenig wahrgenommen. Durch diese Literaturveranstaltung wird klar, was auch Menschen mit Lernbehinderung können. Durch den Preis Ohrenschmaus werden also Barrieren beseitigt. Denn plötzlich lesen viele die Texte von Menschen mit Lernbehinderungen.
Gelungene Texte
Heinz Janisch, Radiojournalist und Kinderbuchautor, war in der Jury (sprich Schürie). Eine Jury hat die Aufgabe, die besten auszuwählen. So war es auch beim Preis Ohrenschmaus. Jeder musste über hundert Texte lesen. Heinz Janisch sagt: Es war für uns sehr spannend. Man geht mit jedem Text in hundert verschiedene Lebenswelten hinein. Und es sind ganz viele Texte darunter, die uns alle berührt haben.
Ein Journalist fragt, ob es einen Unterschied zwischen Texten von behinderten und nicht behinderten Menschen gibt. Heinz Janisch antwortet: Ich weiß nicht, ob ein Text von einem behinderten oder nicht behinderten Menschen geschrieben wurde. Ich weiß nicht, ob er von einem Acht-Jährigen oder einem Achtzig-Jährigen geschrieben wurde. Ich lese vier Zeilen und denke: Das Gedicht löst in mir etwas aus. Texte sind nicht behindert. Sie sind entweder gelungen oder nicht gelungen.
Das Märchen vom großen Herz
Der evangelische Pfarrer und Direktor der Diakonie Österreich, Michael Chalupka, lobt Marek Janta. Dieser hat einen der Hauptpreise gewonnen. Er hat ein Märchen mit dem Titel »Das große Herz« geschrieben.
Michael Chalupka ist begeistert: Dieser Text funkelt und ist gleichzeitig ein Märchen, ein Krimi und ein Stück realistischer Geschichte.
Marek Janta hat Polnisch als Muttersprache und er schreibt in Deutsch. Für Michael Chalupka ist das ein Grund, warum der Text so interessant ist.
Einen anderen Preis hat der Vorarlberger Jürgen Bonner gewonnen. Professor Germain Weber, der Präsident der Lebenshilfe Österreich lobt den Text von Jürgen Bonner: Er spiegelt in seinen Texten, was er in der Welt erlebt hat und über diese Welt denkt.
Germain Weber sagt: Er erzählt in seinem Text sein Leben in Bludenz. Dabei schreibt er über die Männer-Power (sprich: Paua – englisch für Kraft), über Cool- Sein (sprich kuhl - englisch für lässig) und über Fußball. Jürgen Bonner schreibt: Alles, was ich kann, macht mich sehr stolz und ich bin ein Genie (sprich: Schenie). Germain Weber nimmt ihm das ab. Er ist ein Genie. Und es ändert sich überhaupt nichts, wenn man weiß, dass Jürgen Bonner Down-Syndrom hat
Hier ist ein Teil des Textes von Jürgen Bonner:
Ich bin Jürgen, ein Genie
...Ich bin auch Harleyfan und gehe in die Disco.
Ich mache mich schön und dusche, rasiere mich, ziehe ein schönes Hemd an und dann fahre ich mit dem rot-schwarzen-gelben Porsche in die Disco. Da tanze ich mit den Frauen. Die Blonden mit langen Haaren gefallen mir gut. Ich küsse ihre Hand. Ich bin verklemmt und verknallt und werde rot im Gesicht.
Ich bin cool und bin ein großer Mann und eine Frau schaut mich an. Ich wackle cool mit den Schultern. Ein Mann lässt eine CD laufen, Musik machen, raucht eine Zigarette, jawoll und nachher ist Männerpower. Männer geben Gas.
Wir trinken nur Orangensaft und Mineralwasser und schwitzen und haben Spaß. Rauchen ist cool, aber ich schaue nur und rauche nicht. Ich hab zweimal geraucht und hatte Husten.
Selbstbestimmt und selbstbewusst
Franz Joseph Huainigg hat diesen Literaturpreis gegründet. Er tritt dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt leben können. Die Gesellschaft soll ihre Stärken anerkennen und ihnen Raum dafür geben. Er sagt: Ich glaube, dass dieser Preis ein anderes Licht auf Menschen mit Lernbehinderung wirft. Hier werden sie nicht als die armen Hascherln dargestellt, mit denen man Mitleid haben muss. Hier sehen wir: Das sind Menschen sind mit tollen Gedanken. Und diese schreiben sie auf. Das Schreiben ist für diese Menschen eine Möglichkeit, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken.
Ohrenschmaus 2009
Auch im Jahr 2009 gab es den Literaturpreis. Katharina Zabransky hat für Freak Radio in einer Magazinsendung am 6.Dezember darüber berichtet. Diesmal gab es einen neuen Preis: Denn einige Texte wurden auch mit Bildern gestaltet – also spezielle Mischungen aus Texten und Bildern.
Für Gedichte wurde Dieter Gebauer aus Deutschland ausgezeichnet. Seit er in Pension ist und nicht mehr in einer Werkstätte arbeitet, hat er mehr Zeit zu schreiben.
Die älteste Preisträgerin ist Josefine Bitschnau, geboren 1928. Bei der Preisverleihung war sie fast 82 Jahre alt! Dabei spielte sie auch selbst auf ihren Instrumenten Musik.
Sarah Lutschaunig wurde 1984 in Wien geboren und lebt auch heute dort. Eva Jancak ist Mitglied der Jury, also eine Bewerterin der Texte für den Literaturpreis Ohrenschmaus. Bei der Preisverleihung lobt sie den Text von Sarah Lutschaunig.
Der Text ist witzig und bringt fast unglaubliche Geschichten über plötzliche Unfälle – immer mit der genauen Angabe des Begräbnis-Termins. Die Begräbnisse finden zu ganz unmöglichen Zeiten statt, zum Beispiel am Heiligen Abend oder eine Stunde vor Neujahr. Doch nicht alle Unfälle und Miss-Geschicke führen zum Tod.
Hier ist ein Teil des Textes der Preisträgerin:
Nachrichten im Fernsehen
von Sarah Lutschaunig
Eines Tages saß eine junge Frau namens Christl Gänsbichler zu Hause und wollte eine Kirsche essen. Nur leider hat sie den Kern mitgeschluckt. Die Frau Gänsbichler ist umgefallen und war gleich tot. Die Rettung ist gleich gekommen und sie haben sie gleich auf den Zentralfriedhof gebracht. Und das Begräbnis findet am 5.12.2009 um 23.00 Uhr auf dem Zentralfriedhof statt.
Eine ältere Frau namens Zenzi Krautschädel wollte sich zu Hause ein Glas Wasser zum Trinken nehmen, aber leider hat sie statt dem Wasser das Geschirrspülmittel genommen. Danach ist die Frau Zenzi Krautschädel umgefallen und war gleich tot. Das Begräbnis findet am 31.12.2009 um 23.00 Uhr auf dem Zentralfriedhof statt.
Heute gab es eine große Rauferei, ein Mädchen mit 13 Jahren hat mit ihrer Mutter mit 63 Jahren – die Mutter ist leider gestorben und das Mädchen hat es überlebt. Das Begräbnis findet am 1.1.2010 um 21.30 Uhr auf dem Zentralfriedhof statt.
2010: 1000 Euro für die Gewinner
Es gibt ein Preisgeld von jeweils 1.000 Euro. Die besten Texte werden ausgewählt. Die Preise überreicht Bundesministerin Claudia Schmied im Museumsquartier. Die Schokoladenfirma Zotter druckt auch 2010 wieder eine Schokoladenschleife mit dem Siegertext.
Wohin die Texte schicken?
Bis zum 30. September 2010 können für das Jahr 2010 noch Texte eingereicht werden. Jeder kann diese entweder im Internet (klicke hier hin) oder mit der Post abschicken:
Literaturpreis Ohrenschmaus, Postfach 38, 1016 Wien.
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projektes "Lebens- und Arbeitswelten" erschienen.